Verwüstung
Stille. Mira würde nie ganz sicher sein, ob das Gespräch, so wie sie es vernommen hatte, wirklich stattgefunden hatte. Ob die geistigen Kräfte wirklich verschmolzen waren. Es war absolut vorstellbar, dass sie zu viele Folgen Raumschiff Enterprise geguckt hatte, zu viele Science-Fiction-Filme, und sich alles eingebildet hatte, dass sie jetzt in diesem Augenblick ein Delirium erlitt, das durch Panik und Verzweiflung ausgelöst worden war. Das war möglich, aber sie glaubte es nicht.
Andere Gefühle und Bilder überfluteten sie, Gefühle und Erfahrungen aus Tias Leben, ähnlich denen, die sie zuvor im Schlafzimmer wahrgenommen hatte, aber jetzt mit deutlicheren Feinheiten und größerer Tiefe.
Mira kämpfte darum, nicht in Tias Kraft zu ertrinken. Sie wollte nicht mitfühlen, sie wollte bloß Informationen über ihre Tochter und Nadine.
Sie öffnete sich ganz und gar, und die Bilder strömten schnell in sie hinein, wie verrückt, ohne besondere Ordnung oder zeitliche Reihenfolge und ohne Pause, um zu verarbeiten, was sie aufnahm.
Und als die Bilder zu verlangsamen begannen, krümmten sich Miras Finger in ihre Handflächen wie Klauen, ihre Beinmuskeln verkrampften sich, zogen sich zusammen, ihre Augäpfel waren groß, heiß, staubtrocken, und sie war plötzlich so durstig, als hätte sie seit Stunden nichts getrunken. Ihre Blase füllte sich bis zur Schmerzgrenze, ihre Zehen verkrampften sich, ihre Schulter pulsierte vor akutem, erschreckendem Schmerz. Mira begriff plötzlich, dass diese körperlichen Gefühle Tia gehörten, dass sie sich so vollkommen mit dieser Frau vermischt hatte, dass sie jetzt fühlte, was Tia fühlte, und sah, was Tia sah.
Annie und Nadine, beide mit zugeklebten Mündern. Annie saß auf dem Sofa im Wohnzimmer, Nadine in ihrem Rollstuhl – und Crystal tigerte vor den Schiebetüren auf und ab, der Schein ihrer Taschenlampe huschte umher wie ein Glühwürmchen.
Miras Entsetzen zerriss ihre übersinnliche Verbindung zu Tia, verschaffte ihr den eigenen Körper zurück, ließ sie aber auch blind werden in dem anderen Zimmer. Sie hastete auf die Schranktür zu, die Kerze in der einen Hand, das Taschenmesser in der anderen, und drückte ihr Ohr wieder an das Holz. Sie hörte nur den gedämpften Lärm des Sturms.
Sie wischte sich die schweißnassen Hände an der kurzen Hose ab, stellte die Kerze auf den Boden und klappte dann alle Klingen des Taschenmessers heraus, sie wollte herausfinden, welches die längste, schärfste, tödlichste war. Ein Messer würde nicht viel ausrichten gegen eine Pistole, war aber besser als nichts.
Mira blies alle Kerzen außer einer aus, drehte dann den Knauf. Die Tür quietschte, als sie sich öffnete, ihre Knie knackten, als sie in den Schrank krabbelte. Die Katzen begrüßten sie mit leisem Schnurren, sie rieben sich an ihr und bettelten um Aufmerksamkeit und Trost. Ricki winselte und leckte sie, ihr wedelnder Schwanz schlug gegen Miras Arme.
Sie flüsterte: »Okay, ihr Lieben, es ist okay. Ihr müsst jetzt alle da rein.« Mira öffnete die Tür zu dem sicheren Raum, und Ricki ging voran, die Katzen huschten hinter ihr her.
Mira schloss die Tür, und während ihr Herz wie ein alter, müder Motor in ihrer Brust wummerte, blies sie die Kerze aus. Sie drückte den Docht mit feuchten Fingern aus, steckte sie dann in die Tasche, kroch auf die Tür zu, durch eine kohlrabenschwarze Finsternis.
25
Annie presste ihre gefesselten Hände aneinander und versuchte, das Klebeband zu lockern. Die Dunkelheit stand ihr hilfreich zur Seite, weil die blöde Blondine sie nicht sehen konnte, es sei denn, sie richtete ihre Taschenlampe direkt auf das Sofa. Und bislang hatte sie das noch nicht getan.
Seit es an der Tür geklingelt hatte, war die Blondine aufgeregt und zänkisch. Sie tigerte ruhelos hin und her, das Gewehr in der Armbeuge, der Schein ihrer Taschenlampe hüpfte in der Dunkelheit wie ein leuchtender Korken auf schwarzem Wasser. Jetzt blieb sie stehen, um ihr Gesicht an das Glas der Terrassentür zu drücken und zu versuchen hinauszuschauen. Annie vermutete, dass der Faltladen ein wenig offen stand, damit sie wenigstens einen Teil der Terrasse und des Außenbereichs sehen konnte.
Mehrmals eile die blonde Crystal an Tia Lopez vorbei, die neben dem Türrahmen lag, sie hastete in die Küche und dann durch den Flur, wo sie nicht mehr zu sehen war, und Annie wünschte sich, sie würde das jetzt wieder tun. Sie brauchte nur noch ein paar konzentrierte Minuten, um die
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