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Verwüstung

Verwüstung

Titel: Verwüstung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. J. MacGregor
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mit den Augen, als stünde sie direkt davor. Drei, dreieinhalb, vielleicht viereinhalb Meter hoch ragt sie über ihr auf, und dann beginnt die Welle, in sich zusammenzubrechen, und sie zuckt zurück …
    Die Fäuste vor die Augen gepresst, unterdrückte sie ein Schluchzen und stolperte gegen Nadines Rollstuhl.
    »Was hast du gesehen, Annie?«, fragte Sheppard und legte ihr den Arm um die Schulter.
    »Stopp!«, befahl Nadine. »Du machst es nur schlimmer, Shep.«
    »Schon in Ordnung, Nana.« Annie ließ die Arme hängen. »Ich war bloß nicht vorbereitet auf eine solche …«
    »Intensität?«, schlug Nadine vor. »Deutlichkeit? Bildlichkeit?«
    Alles, was sie gesagt hat. »Ja. Und meine Hand tat nicht mehr, was ich wollte.«
    Nadine nickte weise und sah Annie mit ihren dunklen Falkenaugen an. »Das heißt, dass du Dinge mit einer großen Wahrscheinlichkeit gesehen hast.«
    »Das waren keine Wahrscheinlichkeiten, Nana. Das passiert, okay? Eine Wand aus Wasser wäscht die Autos irgendwo zwischen Sugarloaf Key und Bahia Honda weg, die Brücke in Bahia Honda bricht mit Autos darauf zusammen, der Anleger in Tango versinkt.«
    »Nur Möglichkeiten«, sagte Nadine.
    »Aber dass wir keine Möglichkeit haben, zu beeinflussen, was geschieht«, sagte Sheppard, »macht doch wahrscheinlicher, was Annie gesehen hat, oder?«
    Nadine kochte jetzt vor Wut. »Du sprichst über Dinge, die zu verstehen deine Fähigkeit übersteigt, Shep.«
    »Warum bist du so wütend auf ihn, Nana?«, fragte Annie.
    »Weil er hätte hier sein sollen, um uns zu helfen, den Laden zu retten. Weil ihm seine Arbeit wichtiger ist als seine Familie. Weil …«
    »Hey, Ace und Luke waren hier und haben geholfen, und es tut mir leid, dass ich gefragt habe.« Annie hob die Hände. »Und was du sagst, ist ungerecht. Shep war hier, wann immer er Gelegenheit dazu hatte. Er hat die Aluminiumplatten angebracht, er …«
    »Danke, Annie, aber ich kann mich selber zur Wehr setzen.«
    Sein Mund, dachte sie, wirkte grimmig und angespannt, und plötzlich tat Shep Annie leid, weil er sich andauernd gegen Nadines Angriffe und Kritik zur Wehr setzen musste, außerdem musste er noch mit den hellseherischen Wahrnehmungen ihrer Mutter klarkommen. Wer könnte es dem armen Kerl übel nehmen, wenn er auszöge?
    »Ein Waffenstillstand ist wohl die beste Idee«, sagte Annie und begann, den Rollwagen zum Lieferanteneingang zu schieben.
    Shep nahm in ihr ab. »Ich mach das. Geh du und pack noch ein paar Kisten und sag deiner Mutter, dass ich hier bin, ja?«
    »Okay.«
    Annie drückte kurz Sheppards Hand, um klarzustellen, dass sie auf seiner Seite war, dass sie fand, dass Nadine ungerecht war – und plötzlich sah sie ihn vor sich an einem dunklen, engen Ort. Die Klaustrophobie hatte ihn befallen, lähmte ihn, und er konnte kaum atmen. Schweiß tropfte von seiner Haut, sie konnte es riechen, der starke, saure Duft ungewaschener Haut und dreckiger Klamotten und absoluten, all umfassenden Schreckens. Das Bild von Sheppard dermaßen machtlos, gelähmt, befreit von all den Qualitäten, die sie an ihm liebte, machte ihr genauso viel Angst wie die Bilder, die sie eben gesehen hatte.
    Sie verließ das Büro schnell und bewunderte zum ersten Mal ihre Mutter dafür, dass sie gelernt hatte, ihre Fähigkeiten irgendwie in Einklang mit ihrem Leben zu bekommen.
    Kaum war Annie gegangen, starrten Sheppard und Nadine einander finster an. Er hatte dieser alten Frau eine Menge zu sagen, angefangen damit, wie satt er es hatte, dass sie ihn als Gringo-Bastard-Enkel-Schwiegersohn betrachtete. Es kümmerte sie nicht, dass er in Venezuela geboren worden und aufgewachsen war oder dass er Spanisch fast so gut sprach wie sie. In Nadines Augen war er immer noch ein Gringo, der in einer der widerwärtigsten Professionen auf der ganzen Erde arbeitete, und sie verstand immer noch nicht, warum Mira mit ihm verlobt war. Er vermutete, dass Nadine insgeheim die Beziehung als Karma abschrieb und Sheppard als ihr persönliches Kreuz betrachtete.
    »Ich bringe die Sachen raus zum Lieferwagen«, sagte er.
    »Wo willst du den Sturm überstehen, Shep?«
    »Zu Hause.« Die Frage ärgerte ihn. »Wo zum Teufel sollte ich sonst sein, Nadine?« Er zog den Netzstecker und den Kabelanschluss des Fernsehapparats und stellte das Gerät oben auf die Kisten.
    »Oh, vielleicht willst du ja auch entflohene Verbrecher fangen.«
    Und plötzlich war es ihm scheißegal, ob sie zweiundachtzig Jahre alt war und mit einem gebrochenen Fuß im

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