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verwundet (German Edition)

verwundet (German Edition)

Titel: verwundet (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Kühn
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meiner Anfängerzeit als Therapeutin hatte ich einen Chef, den ich sehr bewundert habe. Er schrieb nämlich immer sehr gute Anamnesen und...“
    „Was ist das?“
    „Anamnese kommt aus dem Griechischen und heißt Erinnerung. Es ist eine Art Vorgeschichte einer Erkrankung.“
    Er nickte, und sie fuhr fort. „Seine Ersteinschätzung stellte sich hinterher oft als sehr treffend heraus, und ich habe ihn gefragt, wie er das macht. Er beschrieb mir seine Arbeitsweise folgendermaßen. Er saß im Zimmer und betrachte sich als eine Geige. Wenn der Patient das Zimmer betrete, wäre dieser der Bogen, der auf ihm selbst, also der Geige, bestimmte Schwingungen und Töne hervorbringe. Er zeigte mir dann mit seinen Händen eine Spannbreite, die ziemlich schmal war, und sagte, sehr viele der Patienten würden nur solch eine Breite von Gefühlen in ihm auslösen, andere hingegen, er erweiterte die Spannbreite seiner Hände um ein Vielfaches, würden solch eine Bandbreite von Tönen auf ihm erzeugen.“
    „Das bedeutet aber, der Therapeut muss auch über eine gewisse Spannbreite verfügen, sonst würde seine Saiten ja nicht zum Erklingen gebracht werden, oder?“ Angelika nickte. „Lisa beispielsweise verfügt über eine riesige Bandbreite an Emotionen. Da sie in ihrem Leben bisher leider eher die Schattenseiten kennengelernt hat, empfindet sie diese Sensibilität ebenfalls als sehr belastend. Aber eines Tages wird sie es hoffentlich sehr zu schätzen wissen und dankbar dafür sein.“ . Gequält strich sich Harald über die Augen, um die Bilder zu verscheuchen. Als er sie wieder öffnete, sah er zwei graue Augenpaare auf sich gerichtet und erschrak. Geschwind erhob er sich und verließ das Wohnzimmer, um ins Bad zu gehen. Dort öffnete er das Fenster und steckte seinen Kopf in den Wind, um sein heißes Gesicht zu kühlen. Für einen Moment besah er sich den Fensterrahmen. Ob er wohl dadurch passen würde? Aber nein, das konnte er Angelika nicht antun. Außerdem reichten zwei Stockwerke vielleicht nicht aus und er wäre am Ende querschnittsgelähmt. Irgendwann horchte er auf. Aus dem Wohnzimmer drangen keine Töne mehr herüber, und so schloss er nach ein paar Minuten das Fenster und überlegte, wie er sich nun verhalten sollte. Am besten wäre es wohl, zu gehen. Zum Schein betätigte er die Spülung und wusch sich anschließend die Hände. Als er das Bad verließ, standen zu seinem Erstaunen Angelika und Kai im Flur. Kai zog sich seine Jacke an und sagte zu Harald: „Ich muss los, sonst bekomme ich meine Mitfahrgelegenheit nicht mehr.“ Für einen kurzen Moment war sein Blick genauso prüfend wie der von Angelika, dann aber lächelte er und sagte: „Mach´s gut. Wir sehen uns Samstag bei Herbert.“
    „Clärchen ist daran kaputtgegangen.“
    Sie schüttelte den Kopf. „Nein, bestimmt nicht. Sensible Menschen fühlen ja nicht nur den Schmerz mehr als andere, sondern auch Gefühle wie beispielsweise Freude. Du hast gesagt, dass sie sehr musikalisch gewesen sei und Musik über alles geliebt habe. Wie weit jemand Glück beim Hören von Musik empfinden kann, hängt von seiner Gefühlstiefe ab.“
    „Mein Vater hat sie manchmal schrecklich verprügelt, und dann konnte er hinterher über Beethoven weinen. Was sagst du denn dazu?“
    „Schrecklich!“ Sie nahm seine Hand und drückte sie. „Hinterher hat er sich oft entschuldigt! Kannst du dir das vorstellen?“
    Ihr Blick war ernst, als sie nickte. „Hinter Wut, Hass, Aggressionen und Gewalt steckt meist ein Mensch, der unfähig ist, mit eigenem Schmerz fertigzuwerden. Viele Patientinnen, die von ihren Ehemännern verprügelt wurden, berichten über diese widersprüchlichen Verhaltensweisen. Meist haben diese Ehemänner als Kinder ebenso viel Gewalt erfahren, die sie dann später einfach weitergeben.“
    Harald atmete hörbar aus. „Du hörst ja wirklich schreckliche Sachen! Wie hältst du das bloß aus?“
    „Manchmal besser, manchmal schlechter. Besonders schwierig ist es für mich, wenn es um junge Menschen geht, die misshandelt und missbraucht worden sind.“ Harald nickte nachdenklich. Plötzlich war eine Erinnerung in ihm aufgetaucht. Seine Mutter hatte ihm, kurz bevor er abgehauen war, erzählt, dass der Vater als sechzehnjähriger Kriegsgefangener von anderen Gefangenen vergewaltigt worden war.
    Angelika berührte ihn an der Hand. „Woran denkst du?“
    „Ich habe noch einmal über unser Gespräch über die Liebe zum Therapeuten nachgedacht. Was ist denn, wenn der

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