verwundet (German Edition)
Alltag dort wirklich aus?“
„Du kommst mit einem Rucksack auf dem Rücken an und“, Angelika lachte, „stehst erst einmal verschüchtert in der Gegend herum. Man wurde dann durch einen Volontär-Beauftragten abgeholt und in einen gemeinsamen Speisesaal gebracht und verköstigt. Anschließend wurde einem das Zimmer gezeigt. Ich teilte meines mit einer Amerikanerin, was mein Schulenglisch auf eine harte Probe gestellt hat. Man arbeitete sechs Tage pro Woche sechs Stunden am Tag. Ich wurde in diesen zwei Monaten überall eingesetzt, egal, ob es im Speisesaal, in der Küche, in der Wäscherei oder in der Plastikfabrik war. Ich habe Orangen gepflückt, im Garten und auch im Kinderhaus gearbeitet. Alles lief stets ruhig und gut organisiert ab, ohne Stress und Hektik. Es waren Jugendliche aus aller Welt dort. Niemanden interessierte, ob man aus einer reichen Familie kam oder ob man einen Vater hatte. Vorurteile, Angeberei oder unsoziales Verhalten wurden nicht toleriert. Man musste also allein durch seine Persönlichkeit überzeugen. „ „Hört sich gut an.“
„Ja, das Gemeinschaftsleben dort war eine ganz neue und sehr wichtige Erfahrung für mich.“
„Du scheinst wirklich sehr darunter gelitten zu haben, keinen Vater zu haben.“
„Das habe ich.“ Ihre Augen waren ruhig auf ihn gerichtet.
„Ich versuche immer noch, mir vorzustellen, wie es für dich gewesen sein muss Aber mein eigener Wunsch, keinen Vater zu haben, steht dem im Wege.“
Ihr Blick war aufmerksam. „Eines Tages wirst du wahrscheinlich feststellen, wie viel du von ihm hast.“
„Das hoffe ich nun wirklich nicht.“ Er war froh, dass die Pause der Musiker vorbei war, und fragte: „Wollen wir noch einmal tanzen?“
„Gerne.“
Auf der Tanzfläche angelangt, legte sie den Arm um seinen Nacken.
„Ich kann es zwar nicht erklären, aber ich fühle mich dir manchmal so nahe und manchmal wieder so fern. Das macht mir Angst.“
Ihre Stimme klang sanft, als sie leise sagte: „Ich weiß.“ Unwillkürlich zog er sie noch dichter an sich heran, umschlang sie mit beiden Armen und war glücklich, als sie dies zuließ. Nach zwei Liedern murmelte er: „Ich könnte bis in alle Ewigkeit so mit dir tanzen“, und als sie den Kopf hob, beugte er sich zu ihr und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. Über sich selbst erschrocken, starrte er sie an, doch sie senkte wieder den Kopf und tanzte weiter Das Orchester gönnte ihnen vier weitere Chansons, bevor es wieder zu flotteren Rhythmen wechselte.
Sie gingen zu ihrem Tisch zurück und Harald, der fühlte, dass sich die Stimmung zwischen ihnen schon wieder verändert hatte, wusste plötzlich nichts mehr zu sagen, und auch Angelika schwieg. Als sie sich ansahen, erinnerte ihn das an ihre erste prickelnde Begegnung in der Cafetería der Klinik. Sie senkte jedoch den Blick und sah auf ihre Armbanduhr. „Freitagabend ist eigentlich ein schlechter Zeitpunkt, um auszugehen. Meistens holt mich dann das Schlafdefizit der Woche ein. Wollen wir noch austrinken und dann gehen?“
Er nickte und winkte dem Ober. Als dieser an den Tisch trat, kam Angelika Harald zuvor und zahlte. Anschließend wandte sie sich ihm zu. „Was hältst du davon, wenn ich dich nach Hause bringe?“
Wieder nickte er. Während er seinen Wein austrank, sah er sie nicht an. Der Abend war so schön gewesen, und der plötzliche Aufbruch irritierte ihn sehr. Schließlich war auch der letzte Tropfen getrunken, und so erhob er sich schweren Herzens. Er trennte sich nur ungern von ihr. Als sie bei ihrem Fiat angekommen waren, sagte er:
„Du brauchst mich nicht zu fahren. Du bist doch schon ziemlich müde und...“
„Unsinn. Natürlich fahre ich dich noch.“
Das Licht der Laterne brachte ihre Augen zum Glitzern. Ohne nachzudenken, küsste er sie, doch als er ihr Zögern spürte, ließ er sie sofort los. „Ich laufe lieber noch ein Stück. Komm gut nach Hause.“
*
„Dunkelmann.“
„Harald hier. Ich wollte fragen, ob du neulich gut nach Hause gekommen bist.“
„Hallo Harald. Gut, danke der Nachfrage. Und du?“
„Auch gut. Ich würde dich gerne sehen.“
Nach einer Pause, die ihm endlos erschien, sagte sie: „Wenn du Lust hast, komm doch vorbei. Vielleicht bringst du Kuchen mit, wir können zusammen Kaffee trinken.“
Das ließ sich er sich nicht zweimal sagen. Er warf vor Freude seine Schuhe in die Luft, bevor er sie anzog. Dann fuhr er zum Bahnhof, wo eine kleine Bäckerei auch am Samstagnachmittag geöffnet hatte. Als
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