verwundet (German Edition)
nach einem Rotwein. Der Ober empfahl einen Spätburgunder. Sie bestellten zwei Gläser.
Harald fragte: „Bist du letzten Samstag gut nach Hause gekommen?“
„Ja, danke.“
„Wie war die Hochzeit?“
„Nett. Eine Kollegin hat geheiratet. Ich halte nicht viel von der Kirche, aber die Feier danach war sehr schön.“
„Ist deine Kollegin religiös?“
„Nein. Wieso?“
„Weil ich es immer merkwürdig finde, dass die Leute nie in die Kirche gehen, nicht gläubig sind, dann aber doch in Weiß heiraten.“
„Wahrscheinlich ist das ein Überbleibsel von Jungmädchenromantik. Du weißt schon, der Prinz, der seine Holde vor den Altar führt.“
„Na ja, Gewohnheitsatheisten nenne ich das. Nie glauben, nie beten, aber kirchlich heiraten und die Kinder taufen lassen und wenn das Leben mal kritisch wird, doch einen Gott anbeten. Ich bin nicht religiös, aber ich denke, dass man, sofern man religiös ist, entweder richtig nach seiner Religion leben sollte oder gar nicht.“ Nachdenklich sah sie ihn an. „Ich muss da an Leute wie Hesse denken.“
„Hermann Hesse?“
„Ich habe gesehen, dass du nur den Steppenwolf von ihm hast. Ich habe alle seine Schriften gelesen, seine Romane und Erzählungen ebenso wie seine Briefe, die viele Bände umfassen. Er stammte aus einem christlichen Elternhaus, hat sich dann aber für alle Religionen, besonders auch für die des Ostens, interessiert und immer das Verbindende in ihnen gesucht.“
„Was fandest du an ihm, wenn du nicht religiös bist?“
„Ich denke, ich habe unbewusst nach väterlichen Vorbildern gesucht. Außerdem hatte ich ja auch nicht viele Freunde, weil andere Kinder wegen meiner Situation oft nicht mit mir spielen durften oder wollten. Meine Mutter musste zusehen, wie sie mich ernährte und hatte von daher wenig Zeit für mich. Und da haben Hesses Bücher mir geholfen. Endlich war da jemand, der mich zu verstehen schien, der viele meiner Gefühle beschrieb.“
Der Kellner brachte den Wein. Als er gegangen war, fragte ihn Angelika. „Welches war der Lieblingsschriftsteller deiner Jugend?“
„Oskar Maria Graf.“
Sie nickte. „Hätte ich mir fast denken können.“
„Wieso?“
„Seine Einstellung, seine Art des Verweigerns des Militärdienstes, Mitarbeit am Simplicissimus , die Darstellung des Lebens der einfachen Leute.“
„Du hast mir ja sehr genau zugehört.“
Sie sah ihn nur an und erwiderte nichts.
„Erzähl mir mehr.“
„Worüber?“
„Warum Hesse so prägend für dich war.“
„Er war ein sehr einsamer Mensch, genauso wie ich in meiner Jugend. Seine Eltern waren als Missionare in Indien tätig gewesen, und zum Christentum gehört ja leider auch der Gedanke, dass der Mensch von Natur aus sündig und böse sei, also geknechtet gehöre. Hesse, ein hochbegabter Schüler, war in der berühmten Klosterschule Maulbronn. Als er aufgrund schwerer Depressionen aus der Schule ausgebrochen war und einen Selbstmordversuch verübt hat, wurde er als Fünfzehnjähriger in eine Anstalt für geistig behinderte Menschen gesteckt. Es existiert ein Brief an seinen Vater, in dem er ihn mit sehr geehrter Herr angeredet und mit H. Hesse, Gefangener im Zuchthaus zu Stetten unterzeichnet hat. Hinter den starren pietistisch-religiösen Traditionen hat er fortan nur noch Scheinheiligkeit gesehen. Sein Brief ist brillant. Er bringt das Wissen, dass es nur darum ging, seinen als widerspenstig geltenden Geist zu brechen, nuanciert zur Sprache und gehört für mich auch heute noch zu dem Berührendsten, was ich kenne, denn in ihm tritt die ganze Not und Verzweiflung des jugendlichen Hesse gleichzeitig mit dem großen Talent des späteren Schriftstellers zu Tage. Er war depressiv, einsam und isoliert, aber seine Persönlichkeit wurde nicht gebrochen. Er war Zeit seines Lebens nicht bereit, sein Inneres zu verraten.“
„Einsamkeit und Isolation kommen ja auch im Steppenwolf gut zur Sprache. Ich glaube, ich habe das Buch vieroder fünfmal gelesen.“
Sie schwieg eine Zeitlang und sagte anschließend: „Ich bin mir nicht sicher, ob ich angefangen hätte, mich für Psychologie zu interessieren, wenn ich ihn nicht gelesen hätte. Als Erwachsener hat er eine Psychotherapie nach
C. G. Jung gemacht und viele seiner inneren Entwicklungsprozesse in seine Romane eingearbeitet.“ Sie lächelte. „Es wird dir gefallen, zu hören, dass er bereits 1914 in einem Zeitungsartikel an die deutschen Intellektuellen appelliert hat, nicht in nationalistische Polemik zu
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