Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
verwundet (German Edition)

verwundet (German Edition)

Titel: verwundet (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Kühn
Vom Netzwerk:
schwieg.
    „Du dachtest, dass ich keinerlei persönliche Gefühle für dich hege, und nun warst du überrascht, zu hören, dass es mich frustriert, das Gefühl zu haben, in der Therapie nicht weiterzukommen.“
    Lisa nickte.
    Die Ärztin seufzte. „Lisa. In erster Linie bin ich ein Mensch und erst in zweiter eine Psychiaterin. Deine Geschichte lässt mich doch nicht kalt, deine Trauer, dein Schmerz, dein Verlassenheitsgefühl. Ich möchte dir gerne helfen, und wenn ich denke, dass wir keinen Schritt weiter kommen, macht mich das natürlich traurig.“
    „Aber es stimmt ja doch nicht, dass wir, dass ich... ich male doch und kann meine Gefühle viel besser ausdrücken.“
    Frau Dr. Dunkelmann lächelte. „Du versuchst, mich zu trösten.“
    „Es ist die Wahrheit.“
    „Ich weiß. Auch Therapeuten sind manchmal traurig und haben dunkle Stimmungen.“
    Lisa schloss die Augen. Unter ihren Lidern tropften dicke Tränen hervor.
    „Lisa?“
    „Ich verliere sowieso immer die Menschen, die ich liebe, also will ich nicht, dass ich jemanden lieb habe. Harald ist ja nun auch weg. Er war heute früh hier und hat sich verabschiedet.“ Sie ließ den Kopf hängen. „Ich habe immer gedacht, er hätte alles im Griff. Er hat gesagt, dass sein Weggang nichts mit mir zu tun hätte, sondern dass er eine Frau liebt, die aber seine Liebe nicht erwidert. Schon komisch. Ich wäre froh, wenn mich ein Mann so lieben würde, aber wir werden wohl beide niemals das bekommen, was wir uns wünschen!“
    „Was wünschst du dir denn, Lisa?“
    „Ich wünschte, Sie würden mich lieben.“
    „Die Liebe eines Menschen füllt nicht das ganze Leben aus. Was wünschst du dir noch?“
    „Weniger Schmerz.“
    „Was noch?“
    „Ich weiß nicht.“ Sie sah wieder hoch und blickte in die liebevollen Augen der Ärztin. „Ich drehe mich im Kreis, nicht wahr? Und deshalb haben Sie auch das Gefühl, mir nicht helfen zu können. Es tut mir leid.“
    „Dafür gibt es keinen Grund. Früher, Lisa, hast du vor allem etwas von Herrn Wiebke gewollt, warst enttäuscht, wenn er nicht getan hat, was du dir wünschtest. Nun fühlst du mit ihm und kannst seinen Schmerz nachempfinden. Das ist ein großer Fortschritt.“
    „Sie sind also nicht mehr traurig?“
    „Nein, Lisa. Ich denke, wir beide haben doch schon eine ganze Menge erreicht. Um deine Metapher der Inseln zu gebrauchen: Die Inseln sind jetzt durch Brücken verbunden.“
    *

***
    H arald war nervös, als er bei Frau Dr. Donner klingelte. Die dunkle Stimme der Analytikerin hatte ihm am Telefon erklärt, dass ihre Praxis ein Teil ihrer Wohnung sei, sie kein Wartezimmer hätte und er somit nicht vor der vereinbarten Zeit hereingelassen würde. Jetzt war es Punkt sechs, und der Türdrücker summte. Neugierig betrat er das Haus. Im Treppenhaus des Altbaus führte ein roter, robuster Läufer, der mit Messingstäben an den einzelnen Stufen befestigt war, die Treppen hoch. Zögernd ging Harald in den zweiten Stock. Oben bemerkte er, dass eine der beiden Wohnungstüren nur angelehnt war. Trotzdem versicherte er sich, dass es die richtige Wohnung war und studierte das Klingelschild. „Donner“ stand dort schlicht. Er holte tief Luft und trat in die Wohnung. Er befand sich in einem Flur, von dem vier Türen abgingen. Alle waren geschlossen. Nun öffnete sich eine der Türen, und eine Frau trat heraus. Das erste, was ihm auffiel, war ihre aristokratische Ausstrahlung. Sie war fast anderthalb Köpfe kleiner als er, was er aber aufgrund ihrer aufrechten Haltung erst bemerkte, als sie direkt vor ihm stand.
    Durchdringende Augen musterten ihn. „Guten Tag, Herr Wiebke“, Sie reichte ihm die Hand mit einem angenehm festen Druck. „Legen Sie doch bitte ab.“ Sie wies auf die Garderobe.
    Er hängte seine Jacke auf und folgte ihr. Das elegante, braune Strickensemble, bestehend aus einem langen, schmal geschnittenen Rock und passendem Pullover, verriet eine zierliche Gestalt. Das Zimmer, in das sie ihn führte, war hell, mit Doppelfenstern und einem schönen Erker, in dem viele Pflanzen standen. Die lichten, hohen Farne und eine große Drachenpalme vermittelten den Eindruck einer kleinen Oase. Er nahm einen Schreibtisch wahr, eine Liege, mehrere kleine Wandregale und zwei Sessel, die sich leicht schräg gegenüberstanden. Sie setzte sich und bat ihn, Platz zu nehmen. Während er sich in den bequemen Sessel sinken ließ, betrachtete er sie. Er schätzt sie auf Anfang Fünfzig. Ihre blonden Haare waren teilweise

Weitere Kostenlose Bücher