verwundet (German Edition)
Blondinen oft für fade befunden, aber das Blau ihrer Augen verhinderte jeden Eindruck von Farblosigkeit.
Er wartete ab, bis sie sich gesetzt hatte, um dann selbst Platz zu nehmen. An ihrem Blick sah er, dass sie seine Höflichkeit zur Kenntnis genommen hatte. „Wollen Sie mich nichts fragen?“
„Sie bestimmen die Themen. Erzählen Sie einfach immer das, was Sie gerade am meisten bewegt.“
„Sie haben letztes Mal gefragt, ob ich denke, dass ich Schuld habe an Clärchens Tod, und ich denke, nein, ich weiß , dass ich Schuld habe. Ich hätte niemals weggehen dürfen.“
„Gehen wir einmal davon aus, Sie wären nicht gegangen. Was wäre geschehen?“
„Ich hätte ihn abhalten können, sie zu verprügeln.“
Die Analytikerin nickte. „Nehmen wir einmal an, die Prügeleien hätten aufgehört. Wie wäre es weiter gegangen mit Ihrer Familie, mit Clärchen, mit Ihnen?“
„Ich...“
„ Er runzelte die Stirn. „Ich hätte mir einen Job und eine Wohnung suchen und sie dann zu mir nehmen können.“
„Ihre Eltern hätten eine Einwilligung erteilen müssen, da Ihre Schwester noch nicht volljährig war. Außerdem waren Sie ja selbst noch minderjährig. Hätten sie das getan?“
„Bestimmt nicht!“
„Sagen wir mal, Ihre Eltern hätten zugestimmt. Wie wäre es weiter gegangen?“
Darauf wusste er keine Antwort.
„Wieso sind Sie schon mit sechzehn aus dem Haus gegangen?“
„Weil ich es nicht mehr ausgehalten habe.“
Sie nickte. „Sie waren also ebenfalls unglücklich?“
Er nickte nur.
„Glauben Sie, dass Sie als ein unglücklicher, unfertiger Jugendlicher die Verantwortung für ein so junges, depressives Mädchen wie Clärchen hätten übernehmen können?“
Verblüfft starrte er sie an. Nach einer Weile sagte er: „Ich hätte Sie trotzdem nicht alleine lassen dürfen.“
„Auch nicht, wenn Sie selbst in Gefahr waren?“
„In Gefahr?“
„Für mich hört sich Ihr Elternhaus nach Gefahr an. Oder sehen Sie das anders?“
Zögernd sagte er: „Ich hatte Angst, meinem Vater eines Tages an die Gurgel zu gehen. Ich habe es einfach nicht mehr ertragen, mitanzusehen, wie er meine Schwester geschlagen hat.“
Die Stimme Frau Dr. Donners klang leise, als sie sagte: „Manchmal, Herr Wiebke, haben wir einfach keine Wahl. Dann nämlich, wenn wir an Leib oder Seele gefährdet sind und unser Selbsterhaltungstrieb größer ist als alles andere.“
Er sah in das mitfühlende Gesicht der Analytikerin. „So etwas Ähnliches hat mir Angelika auch schon gesagt, aber ich dachte, sie wolle mich nur trösten.“
„Manchmal ist es besser, Meinungen von Menschen zu hören, an die man nicht emotional gebunden ist.“ Als er nickte, erhob sie sich und sagte: „Wir sehen uns morgen um die gleiche Zeit.“
„Dieses Ende ist ganz schön abrupt.“
„Ich weiß. Aber daran werden Sie sich gewöhnen müssen.“
*
Lisa saß vor Frau Dr. Dunkelmann. „Stellen Sie sich vor. Harald hat mir geschrieben. Er vertritt einen Tierpfleger in Leiferde auf der Vogelstation. Er hat mir ein Bild von seiner Schwester geschickt. Schauen Sie mal.“ Sie reichte der Ärztin ein Foto. „Er hat einmal gesagt, ich würde ihn an sie erinnern. Sieht sie mir wirklich so ähnlich?“ Die Ärztin betrachtete das Foto und sagte. „Ja, es besteht eine gewisse Ähnlichkeit. Es sind vor allem die Augen.“
„Ihre Augen sind so traurig. Sind meine auch so?“
„Oft, Lisa.“
„Furchtbar, dass sie sich umgebracht hat.“ Sie schwieg eine Weile, bevor sie fortfuhr: „Es muss ziemlich hart für ihn gewesen zu sein, als er hörte, dass ich... Sie wissen schon...“ Tränen tropften auf ihre Hände. „Sie hätte ihn bestimmt nicht verraten.“ Lisa ließ den Kopf sinken. „Er hat Lydia einmal betrogen. Er war bekifft und betrunken und Maja hatte leichtes Spiel. Ich habe ihn erpresst, weil ich wollte, dass er Lydia dazu bringt, mich wieder bei sich aufzunehmen, und dann habe ich ihn trotzdem verraten. Lydia hat ihn rausgeschmissen.“ Frau Dr. Dunkelmann gab Lisa das Foto zurück. „Dein Verhalten war sicher nicht korrekt, Lisa. Aber dass Herr Wiebke von Frau Kaufmann rausgeworfen wurde, hat er durch seinen Betrug selbst zu verantworten.“
„Ja, schon. Aber Lydia hat das alles völlig überbewertet, hat nicht verstanden, dass es für Harald keinerlei Bedeutung hatte. Idiotisch! Die meisten Menschen sehen das mit dem Sex viel zu eng. Wenn ich überlege, mit wie viel Männern ich geschlafen habe ohne, dass mein Herz daran hing.
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