verwundet (German Edition)
„Halt den Mund.“
Lisa verließ das Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
Später, als Lydia sich für die Nacht fertig machte, ging Lisa zu ihr ins Bad. Sie hatte in ihrem Zimmer weiter getrunken. Sie beobachtete Lydia, die sich vor dem Spiegel die Haare kämmte, und sagte: „Du bist wunderschön.“
Lydia reagierte nicht.
„Ich will mit dir schlafen!“
Die Haarbürste fiel ins Waschbecken.
„Warum antwortest du nicht?“
Lisa trat hinter Lydia, ihre Augen trafen sich im Spiegel. „Schockiert?“
Lydia antwortete nicht. Sie nahm wieder die Bürste und wollte sich weiter kämmen, doch Lisa riss sie ihr aus der Hand. „Nun hör doch auf mit dem blöden Kämmen. Warum antwortest du mir nicht?“ Sie schmiegte sich von hinten an Lydia und ließ ihre Hand in ihren Ausschnitt gleiten.
Blitzschnell drehte Lydia sich um und gab Lisa eine Ohrfeige. „Du...!“ Sie barg ihr Gesicht in den Händen, sah wieder auf das entsetzt dreinschauende Mädchen. Lisa rieb sich die Wange. Verzweifelt schrie sie Lydia an: „Warum liebst du mich bloß nicht? Warum hast du mich wieder bei dir aufgenommen, wenn ich dir nichts bedeute, wenn es dir egal ist, ob ich saufe, Tabletten nehme und mich zugrunde richte? Du urteilst immer nur über Andere, über mich, über Harald, über Maja. Und ich gehe hier kaputt, und dir ist das scheißegal!“ Sie wich zurück und starrte zu Boden. Wie zu sich selbst, sagte sie: „Das Einzige, was mir jetzt noch bleibt, ist der Tod.“ Dann drehte sie sich um und ging. Sie hörte nicht mehr, wie Lydia nach ihr rief und verließ die Wohnung.
*
Lydia lag schon im Bett und konnte nicht schlafen. Seit Tagen suchte sie Lisa. Sie war in der Grotte, sie war in Lisas alter Wohnung, sie war bei Heidi, die ihr aber auch nicht weiterhelfen konnte. Sie war sogar bei Harald, dort öffnete jedoch niemand. Eine Woche passierte nichts, sie sah jeden Tag in der Grotte und bei Harald vorbei. Als sie Harald nie erreichte, ging sie zur Tierarztpraxis. Sie bekam die Auskunft, dass Harald gekündigt hätte. Sie rief die Krankenhäuser an und auch die Polizei. Eine Lisa Stralsund war nirgends auffällig geworden. Zum ersten Mal in ihrem Leben wusste sie nicht mehr weiter. Hatte sich Lisa in ihrer Verzweiflung vielleicht etwas angetan? Immer wieder gingen ihr Schreckensbilder durch den Kopf, was Lisa alles passiert sein konnte, als sich plötzlich die Tür öffnete und das Licht anging. Lisa stand vor ihr. Bevor sie irgendetwas sagen konnte, hatte Lisa sich in ihre Arme geworfen und weinte hemmungslos an ihrer Schulter. Nach einer Weile schluchzte sie: „Wenn du mich nicht liebst, mir nicht hilfst, sehe ich keine Lösung mehr. Ich bringe mich dann um!“ Lydia sagte immer noch nichts. Lisa sah sie an, sie konnte Lydias Augenausdruck nicht deuten. Sie umarmte Lydia, fühlte ihren Körper. Lisa starrte sie an, völlig ihren Gefühlen ausgeliefert. Warum hörte es niemals auf? Schließlich küsste sie Lydia auf den Mund. Lydia wich nicht aus, und Lisa küsste sie noch einmal, sie konnte es nicht fassen, dass Lydia sich nicht wehrte. Wieder und wieder küsste sie Lydia, die zögernd begann, den Kuss zu erwidern.
Später erhob sich Lydia von ihrem Lager. Lisa ließ sie gehen. Lydia hatte seit Stunden kein Wort gesprochen, sie war weit entfernt und unerreichbar für sie gewesen. Nach einer Weile stand Lisa auf, zog sich an, ging noch einmal in ihr Zimmer und verließ das Haus. In der Hand hielt sie nur ihre Tasche.
Lydia hörte sie nicht gehen. Sie war völlig lethargisch. Was war es, was Lisa so von ihr erflehte?
Lydia wurde von der Türglocke wach. Sie kam kaum zu sich, weil sie sich wieder stundenlang im Bett gewälzt hatte und erst vor kurzem eingeschlafen war. Das Klingeln wiederholte sich. Sie sah auf die Uhr, halb sieben. Lisa konnte es nicht sein, sie hatte einen Schlüssel. Sie zog sich einen Morgenmantel über und sah durch den Türspion. Zwei Polizisten standen vor der Tür. Jetzt war sie hellwach. Panisch öffnete sie.
„Frau Lydia Kaufmann?“
„Ja?“
„Dürfen wir reinkommen?“
„Ja, natürlich.“ Sie ließ die beiden Männer eintreten. „Ist was mit Lisa?“
„Es tut uns leid. Lisa Stralsund ist heute Nacht von Jugendlichen aufgefunden worden. Sie hat versucht, sich das Leben zu nehmen.“
Lydia bekam einen Weinkrampf. Einer der Polizisten stützte sie und brachte sie ins Wohnzimmer zu einem Sessel. Er griff nach Taschentüchern, die auf dem Tisch lagen, zog eines heraus und
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