verwundet (German Edition)
zurücksehnte. Aber bis jetzt konnte sie noch widerstehen, sie wusste nur nicht, wie lange noch. Das Leben war so eintönig, und sie fühlte sich leer und nutzlos. Lydia und Harald gingen morgens zur Arbeit. Lydia sprach nicht davon, dass Lisa in der Buchhandlung arbeiten solle, aber eines Tages tauchte Lisa dort auf. Lydia war wohl gerade in der Küche oder im Lager.
Susanne kam ihr entgegen. „Ach du bist es.“
„Ja, ich bin’s“, gab Lisa schnippisch zur Antwort.
Frau Kraus gesellte sich zu ihnen. „Hallo Lisa. Schön, dich mal wieder zu sehen.“
Lisa gab ihr die Hand und fragte nach ihren Enkelkindern, als Lydia kam und sie unterbrach. „Hallo Lisa. Ist irgendetwas?“
„Na ja, ich muss meine Stunden abarbeiten.“
„Du musst nicht.“
„Gut, ich will! Am Besten etwas im Lager, da kann ich nichts verkehrt machen.“
Lydia sah sie einen Augenblick schweigend an, dann ging sie mit ihr ins Lager. Sie zeigte Lisa einen Karton mit neuen Büchern. „Die müssten alle ausgepackt und jeweils ein Exemplar aus der eingeschweißten Hülle genommen werden. Sie hob eine der Kisten hoch und stellte sie auf einen Tisch. „Du kannst dich hier auf die Couch setzen.“ Sie hielt inne und starrte auf das Sofa. Mit dem Kuss hatte alles angefangen. Sie sahen sich an, unfähig, etwas zu sagen. Der Bann wurde gebrochen, als Susanne ins Lager gelaufen kam. „Lydia? Da ist Besuch für Sie.“
Ach, soweit war es schon, dass Susanne Lydia mit Vornamen ansprach. Lydia ging, und Lisa begann mit dem Auspacken der Bücher. Nach dem sie sie alle aus der Kiste genommen hatte, fing sie an, sie aus der Plastikfolie zu schälen. Ab und zu besah sie sich ein Buch näher. Was war an diesen Büchern, die Lydia und auch Harald so schätzten? In Gedanken sah sie Lydia auf der Couch sitzen. Immer hatte sie ein Buch in der Hand. Lisa hatte nie viel gelesen. In ihrer Familie gab es keine Bücher. Wie lerne ich zeichnen? Das war ja mal ein interessanter Buchtitel. Lisa blätterte darin. Bald hatte Lydia Geburtstag und sie hatte noch kein Geschenk. Ihre Zeichnungen hatten ihr immer gefallen. Vielleicht sollte sie ihr zum Geburtstag ein Bild schenken, eines von Lydia selbst. Sie musste es zumindest probieren. Sie ging früher nach Hause und stöberte in der Schublade, in der Lydia alte Fotos aufhob. Nach einer Weile fand sie eines, das ihr brauchbar erschien. In ihrem Zimmer machte sie sich sofort an die Arbeit. Die ersten Versuche misslangen. Aber langsam wurde ihre Hand sicherer, und sie war so konzentriert bei der Sache, dass sie nicht merkte, dass plötzlich Lydia vor ihr stand. „Hier ist Post für dich.“
Sie erschrak und schlug den Block zu. Hoffentlich hatte Lydia nicht das Foto gesehen. Lydia hielt ihr einen Brief hin. Lisa war erstaunt. Ein Brief für sie. Ein Luftpostbrief. Andrea hatte ihr geschrieben. Mit schlechtem Gewissen sah sie Lydia an: „Ich habe nur ihr die Adresse gegeben, weil..., na ja, sie lebt doch jetzt in Amerika.“ Lydia ging, ohne etwas zu sagen. Lisa riss den Brief auf. Andrea schrieb begeistert über das neue Land, erzählte, dass sie jetzt Englisch lerne und wie neu und aufregend alles sei und wie glücklich sie mit Charlie war. Lisa freute sich für sie. Gleichzeitig zog Trauer durch ihr Herz. Sie hatte nichts, worüber sie sich freuen konnte. Mit Lydia war es kompliziert, und auch zu Harald fand sie seit ihrer Nötigung keinen Zugang mehr. Lange saß sie da. Dann zerriss sie ihre Zeichnung.
Die Wochen verstrichen. Spannung lag in der Luft. Harald, Lydia und Lisa waren alle drei beklommen, übervorsichtig, jeder auf seine Art bemüht, die Stimmung nicht eskalieren zu lassen. Lisa nahm wieder Schlafund Aufputschmittel und trank heimlich, was natürlich nicht unbemerkt blieb. Doch weder Lydia noch Harald sagten etwas dazu. Harald war oft nicht zu Hause, saß in Kneipen und trank ebenfalls nicht wenig. Lydia arbeitete viel, blieb oft noch bis weit nach Ladenschluss im Geschäft. Susanne hatte Urlaub, und sie hätte Lisas Hilfe gebrauchen können. Diese kam aber schon länger nicht mehr in die Buchhandlung, und außerdem scheute Lydia ihre Gegenwart.
Lisa war nach dem Schlafengehen noch im Bad gewesen. Sie hatte Geräusche aus dem Schlafzimmer von Harald und Lydia gehört. Verbittert hatte sie leise die Tür geöffnet und beobachtet, wie die beiden miteinander schliefen. Sie hatte sich, ohne es zu merken, die Unterlippe blutig gebissen und lag jetzt im Bett und weinte. Eine verzweifelte Sehnsucht
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