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verwundet (German Edition)

verwundet (German Edition)

Titel: verwundet (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Kühn
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erinnere, ist Lisa zweimal am Darm und beim zweiten Mal auch am Blinddarm operiert worden. Aber mehr kann ich Ihnen nicht sagen.“
    „Wissen Sie den Namen der Klinik?“
    „Leider nicht.“ Lydia schüttelte bedauernd den Kopf. „Sie war doch noch so klein, als sie operiert wurde. Wie kann sie sich daran erinnern?“
    „Damals verwendete man noch Äthernarkosen und die Masken, die auf das Gesicht gedrückt werden, sind sehr unangenehm und schon für Erwachsene eine schlimme Sache. Für ein Kind, wie Lisa es damals war, waren diese Erlebnisse traumatisch.“
    Lydia nickte. „Arme Kleine!“ Sie zögerte, dann fragte sie. „Hat Herr Wiebke sich inzwischen gemeldet.“
    „Ja, ich hatte bereits mehrere Gespräche mit ihm.“
    „Tatsächlich. Was hat er gesagt?“
    „Diese Gespräche müssen vertraulich behandelt werden. Im Moment erreiche ich ihn allerdings nicht mehr, und ich dachte, er wäre vielleicht bei Ihnen.“
    Lydia schüttelte den Kopf. „Wie kommen Sie denn darauf?“
    Die Psychiaterin erhob sich. „Frau Kaufmann, vielen Dank für Ihr Kommen und Ihre Mitteilungen. Sagen Sie, hatte Lisa Hobbies oder besondere Interessen?“
    „Sie hat sehr gut gezeichnet, es aber nie dauerhaft betrieben.“
    „Gut. Hier gibt es Malen als Beschäftigungstherapie. Mal sehen, ob wir damit etwas in Gang setzen können.“ Sie reichte Lydia die Hand, die zu ihr sagte: „Ach bin ich froh, Frau Dr. Dunkelmann. Das waren heute gute Neuigkeiten. Endlich!“
    *
    Frau Kesten war in ihrer Therapiesitzung, und so war Lisa allein im Zimmer. Sie saß auf ihrem Bett und starrte an die Wand. Kein Geräusch drang zu ihr durch. Die Zeit schien still zu stehen. Ihre Gedanken fühlten sich an wie ein zäh fließender Brei, der sich mit der Außenwelt vermischte. Es schien kein Außen und kein Innen zu geben, keine Vergangenheit, keine Gegenwart, keine Zukunft. Alles war eins. Wie früher als kleines Mädchen spürte sie dieses Vakuum, dieses Herausfallen aus der Zeit, aus dem Leben, wusste nicht mehr, ob sie der Stuhl, das Bett oder das ganze Zimmer war. Sie schien mit allem verbunden, nur nicht mit anderen Menschen. Die Menschen, die zu ihr ins Zimmer kamen, schienen von einem anderen Planeten zu sein, sprachen eine andere Sprache, erzählten von Dingen, die sie nichts angingen, die sie nicht berührten. Niemand konnte die Glasglocke, die sie umgab, durchdringen. Auch die Erinnerungen an ihre Mutter, an Lydia, an die Grotte gehörten nicht ihr, sondern waren die Geschichten und Erlebnisse eines anderen Menschen. Alles wurde nebelhaft, verschattet, alles war ihr fremd geworden. Wie in Trance griff sie nach ihrem Zeichenblock, der auf ihrem Nachttisch lag, und begann, das Bild zu malen, das gerade Gestalt in ihrem Kopf annahm.
    Sie lag in einem Gitterbett. Durch die weißlackierten Stäbe nahm sie das Zimmer wahr. Alles war weiß. Die Decke, die Wände, die kleine Kommode links von ihr, auf der eine helle Decke lag. Wenn sie den Kopf nach rechts wandte, konnte sie ein Fenster erkennen, durch das ein kleines Stück blaugrauer Himmel zu sehen war. Ansonsten war alles kahl und hell, und wieder verwischten sich die Grenzen zwischen Innen und Außen. Sie war das Bett, die Kommode, die Wände – ein einziger Wahrnehmungsbrei. Und sie war ganz allein! Die Welt war klein, war nur dieses Zimmer. Nichts sonst existierte oder hatte eine Bedeutung. Träumte sie die Welt? Schuf sie sie am Ende gar selbst?
    Sie hatte nicht gemerkt, dass sie gemalt hatte. Als sie den Kohlestift sinken ließ, starrte sie auf die Zeichnung. Wann hatte sie in diesem Zimmer gelegen? Sie betrachtete die Tür, die sie auf das Papier gebannt hatte. Sie war ebenfalls weißglänzend lackiert, hatte jedoch im oberen Bereich ein eingesetztes Glasfenster. Sie fühlte, dass das Bild nicht die weiße Stille ausstrahlte, die sie in ihren Erinnerungen spürte. Diese Stille war von einer Art, dass sie sie regelrecht hören konnte. Sie kam von überall her, von innen und von außen. Sie war ohrenbetäubend, passte zu der absoluten Leere, die sie empfand.
    *

***
    A ls Harald an der Tür der Psychiatrie erklärte, Lisa besuchen zu wollen, wurde ihm mitgeteilt, dass sie nun zwei Zimmer weiter liege. Er bedankte sich, klopfte an Zimmer vierzehn und betrat den Raum. Lisa und Angelika sahen ihm entgegen. Damit hatte er nicht gerechnet. Doch Lisa ließ eine Verlegenheitspause nicht zu. Sie sprang vom Stuhl auf und lief auf ihn zu. „Harald!“ Sie umarmte ihn. „Endlich!“ Er ließ die

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