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verwundet (German Edition)

verwundet (German Edition)

Titel: verwundet (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Kühn
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Lisa. Am Mittwoch können wir dann wieder miteinander reden.“
    Geknickt verließ Lisa das Sprechzimmer. Eine ganze Woche!
    Die ersten zwei Tage verstrichen quälend langsam. Lisa versuchte, viel zu schlafen, aß fast überhaupt nichts und hatte starke Magenschmerzen. Nachts stöhnte sie im Schlaf. Frau Kesten begann, sich Sorgen zu machen. Das Mädchen sprach kaum, schien wieder in ihre Apathie zu versinken, und dann krümmte sie sich immer so zusammen. Als Lisa einmal nicht im Zimmer war, sprach sie Frau Dr. Spatz darauf an. Diese sagte: „Ich weiß, Frau Kesten, die Oberschwester hat mich auch schon darauf hingewiesen. Aber trotzdem vielen Dank.“
    Frau Dr. Spatz brachte das Thema am nächsten Morgen zur Sprache. Lisa sah sie nur erschrocken an. Die Ärztin bat sie, sich auf das Bett zu legen. Dann tastete sie ihren Bauch ab. „Lisa, es hilft alles nichts, wir müssen eine Magenspiegelung vornehmen.“
    „Nein!“
    „Doch, Lisa, das wird uns weiterhelfen. Du bekommst eine Spritze und wirst nicht viel davon mitkriegen, aber es muss sein.“ Lisa wagte nicht mehr, dagegen zu sprechen. Frau Dr. Spatz war im Gegensatz zu dem, was ihr Name ausdrückte, eine große imposante Frau, deren Sprechweise immer sehr resolut war. Schließlich bekam Lisa am frühen Nachmittag ihre Akte in die Hand gedrückt und wurde in den zweiten Stock gebracht. Ängstlich saß sie im Wartezimmer. Das Dienstpersonal eilte geschäftig hin und her. Lisas Hände waren feucht. Sie sah sich wieder als kleines Mädchen auf der Liege liegen, erinnerte sich mit Entsetzen an den dicken Schlauch im Hals, an das Würgen und das Erstickungsgefühl, die festen Griffe der Schwestern. Lisa war den Tränen nahe. Wieder und wieder musste sie sich ausliefern, und ausgerechnet jetzt war Frau Dr. Dunkelmann nicht da. Eine Schwester kam auf sie zu. „Folgen Sie mir bitte!“ Sie gingen einen langen Gang entlang und schließlich in einen Behandlungsraum. Dort musste sie sich auf die Liege legen. Lisa brach der Schweiß aus. Rasch zogen die Bilder ihrer Kindheit vorüber. Es waren immer die gleichen quälenden Erinnerungen. Die Ärztin kam herein. Sie wirkte unpersönlich und distanziert. Sie gab Lisa nicht die Hand, sah ihr kaum ins Gesicht und fragte nach den Schmerzen. Lisa beschrieb sie als miteinander kämpfende Nadelkissen in ihrem Bauch. Die Ärztin nickte nur, verzog keine Miene. „Es geht doch sicher ohne Spritze, ein paar Beruhigungstropfen dürften reichen.“
    „Frau Dr. Spatz hat mir versprochen, dass ich eine Spritze bekomme.“
    Die Ärztin sah Lisa kühl an und sagte: „Stellen Sie sich nicht so an! Sie sind nicht die erste, deren Magen gespiegelt wird.“ Aber sie gab der Schwester einen Wink, die dann eine Spritze fertig machte. Lisa begann zu zittern und hielt nur mühsam die Tränen zurück. Wieso war sie so böse? Verzweiflung stieg in ihr hoch. Ihre Venen waren sehr schlecht zu finden.
    Lisa erwachte, als jemand ihren Namen sagte: Die Ärztin stand vor ihr. „Sie haben ein Zwölffingerdarmgeschwür. Das muss behandelt werden. Ich schicke Ihrer Station die entsprechenden Anweisungen.“ Lisa reagierte nicht sonderlich, sie war nur müde und wollte schlafen.
    Ab dem nächsten Tag musste Lisa morgens und abends je eine Tablette nehmen, die die reizende Magensäure reduzieren sollte, um das Geschwür auszuheilen. Sie zog sich wieder völlig in sich selbst zurück, zeichnete nicht mehr, lag viel im Bett und starrte aus dem Fenster. Auf Frau Kestens Gesprächsversuche reagierte sie nur wenig. Eines Tages brachte Frau Kestens Mann auf die Bitte seiner Frau einen Kassettenrecorder mit kleinen angeschlossenen Lautsprecherboxen mit, und Frau Kesten fragte Lisa, ob sie die Musik laut stellen dürfe, sie könne den Kopfhörer nur kurze Zeit ertragen. Gleichmütig nickte Lisa und sah wieder aus dem Fenster. Doch dann zuckte sie zusammen. Sie erkannte die Sinfonie sofort, denn Lydia hatte sie sehr häufig gespielt. Doch Lisa, die ständig mit ihren Gefühlen für Lydia hatte kämpfen müssen, hatte nie bewusst zugehört. Das tat sie nun zum ersten Mal. Sie brach in Tränen aus. Frau Kesten fragte sie erschrocken, ob sie die Musik wieder ausmachen solle. Lisa schüttelte heftig den Kopf. „Mozart“ sagte Frau Kesten.
    Lisa ließ sich in die Kissen sinken und gab keine Antwort. Während die Musik erklang, konnte sie sich Lydias Gesicht wieder ganz deutlich vorstellen, sah ihre schönen Züge vor sich, wie sie sich immer mit geschlossenen Augen in

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