Verzaubertes Verlangen
sich, um das Stativ aufzuheben. Venetia legte schützend ihre Hand auf ihre kostbare Kamera.
»Die Kamera trage ich selbst«, erklärte sie.
»Ja, Madam.«
Der Diener hob die Ausrüstung auf und setzte sich beladen wie ein Packesel Richtung Tür in Bewegung.
»Und noch etwas, Henry«, sagte Rosalind.
Henry blieb stehen. »Ja, Madam?«
»Ich bin mir bewusst, dass Mrs. Jones und ihre Schwester durch die Vordertür ins Haus gelassen wurden, aber du wirst sie zur Hintertür hinauslassen, den Dienstboteneingang. Hast du verstanden?«
Henry lief dunkelrot an. »Ähm, ja, Madam.«
Amelia klappte schockiert die Kinnlade herunter. Sie sah hilfesuchend zu Venetia.
Venetia platzte der Kragen. »Komm, Amelia.«
Sie nahm ihre Kamera und ging zur Tür der Bibliothek. Amelia klaubte die Schirme zusammen und eilte ihr hinterher. Henry bildete die Nachhut.
An der Tür blieb Venetia stehen und ließ Henry und Amelia den Vortritt in den Flur. Sobald sie die Bibliothek verlassen hatten, drehte sie sich noch einmal zu Rosalind um.
»Guten Tag, Mrs. Fleming«, sagte sie. »Es dürfte ausgesprochen interessant sein, zu sehen, wie Ihr Porträt wird.
Kritiker sagen mir nach, ich besäße die Gabe, den wahren Charakter eines Porträtierten ans Licht zu bringen.«
Rosalind bedachte sie mit dem gleichen Blick, mit dem eine Schlange eine Maus ansieht, die sie gleich zu verschlingen gedenkt.
»Ich erwarte nichts anderes als Perfektion von Ihnen, Mrs. Jones«, erwiderte sie.
Venetia lächelte gelassen. »Selbstverständlich. Ich bin schließlich Künstlerin.«
Sie machte auf dem Absatz kehrt und trat hinaus in den schummrigen Flur, wo Henry und Amelia nervös auf sie warteten.
Venetia bog prompt nach rechts ab und ging auf die Haustür zu. »Hier entlang, Amelia. Komm, Henry.«
»Entschuldigung, Madam«, flüsterte Henry kleinlaut. »Es tut mir leid, Madam, aber der Dienstboteneingang ist am anderen Ende des Hauses.«
»Danke, Henry, aber wir sind in Eile, und es ist schneller, die Vordertür zu benutzen«, sagte Venetia. »Wir kennen den Weg ja schon.«
Hilflos folgte Henry ihr mit der schweren Ausrüstung.
Am Ende des langen Flurs blieb Venetia stehen, drehte sich noch einmal um und schaute durch den schummrigen Korridor zurück. Rosalind hatte anscheinend erkannt, dass ihre Anweisungen nicht befolgt worden waren und war aus der Bibliothek getreten. Sie stand in der Dunkelheit des unbeleuchteten Flurs.
»Was erlauben Sie sich?«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Ich erlaube mir, die Vordertür zu nehmen«, gab Venetia zurück. »Wir sind schließlich keine Dienstboten.«
Aus einer plötzlichen Eingebung heraus konzentrierte sie sich einen Moment lang angestrengt und ließ ihre Sicht in das andere Spektrum wechseln. Rosalinds Aura wurde erkennbar, sie glühte und flackerte von der Wucht ihres Zorns.
Sie ist nicht einfach nur wütend , erkannte Venetia erschüttert. Sie hasst mich .
»Es gibt da etwas, das Sie wissen sollten, Mrs. Fleming«, sagte Venetia und wechselte wieder zu ihrer normalen Sicht. »Wir vom Fotoatelier Jones sind stolz auf unsere Retuschierkünste. Mit etwas Nachhilfe kann selbst das reizloseste Gesicht auf dem fertigen Porträt atemberaubend schön anmuten.« Sie machte eine Kunstpause. »Natürlich lässt sich das Verfahren auch mühelos umgekehrt anwenden.«
Es war eine kühne Drohung, und riskant noch dazu. Doch Venetia war noch nie einem Kunden begegnet, der auf seinem Foto unattraktiv aussehen wollte. Angesichts von Rosalinds üppiger Schönheit und offenkundiger Eitelkeit war es eine berechtigte Annahme, dass sie auf keinen Fall ein abstoßendes Porträt von sich haben wollte, egal, was sie für den Fotografen empfand.
Rosalind reckte grimmig das Kinn. »Nehmen Sie die Vordertür, wenn es denn sein muss, Mrs. Jones. Es ändert nichts an den Tatsachen. Sie sind nichts weiter als eine gerissene Kleinkrämerin, die sich mit ihren fotografischen Tricks und Kunststückchen bei der gehobenen Gesellschaft eingeschmeichelt hat. Doch die Gesellschaft wird Ihrer schon bald überdrüssig werden und sich anderen Dingen zuwenden, um sich daran zu ergötzen. Wer weiß? Vielleicht werden auch Sie sich eines Tages dazu getrieben sehen, Zyankali zu trinken.«
Sie machte auf dem Absatz kehrt, stürmte zurück in die Bibliothek und knallte die Tür hinter sich zu.
Venetia stockte der Atem. Sie zitterte und konnte eiskalten Schweiß unter dem Mieder ihres Kleides fühlen. Es brauchte
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