Verzeih mir, mein Herz!
Schreiben, die sie von ihm erhielt, waren so nichtssagend und so wenig auf die ihren abgestimmt, dass sie davon ausging, dass er keinen ihrer Briefe je gelesen hatte. Nach nunmehr vier Jahren, in denen sie das heiratsfähige Alter erreicht und auch bald schon überschritten haben würde, hatte sie ihren Verlobten nicht einmal zu Gesicht bekommen!
In ihren panischen Momenten nach dieser verhängnisvollen Nacht hatte sie nur der Gedanke beruhigen können, dass Jordan St. John ohnehin nie die Absicht hatte, sie zu freien, und ihre Verehelichung sicherlich noch weiter hinauszögern würde. Mit fünfundzwanzig würde sie vollen Zugang zu ihrem Vermögen haben, das nicht Teil ihrer Mitgift war, deshalb machte sie sich keine weiteren Gedanken über ihren Ruin. Sie war abgesichert, sie brauchte nicht zu heiraten, und bis sie die Verfügungsgewalt über ihr Geld hatte, konnte sie in dieser Farce einer Verlobung verweilen, das war Aylesbury ihr schuldig!
Elizabeth wurde in der Halle von den anderen Mündeln des Earls of Chadwick begrüßt, die ob der ruppigen Begrüßung der sonst so herzlichen Cousine beunruhigt waren. Elizabeth zog sich in ihr Zimmer zurück und wollte nicht gestört werden, was sie der hastig hinter ihr hereilenden Zofe brüsk mitteilte.
Sie waren nach dem Maskenball drei weitere Wochen in London geblieben und erst abgereist, als Elizabeth der Tante gedroht hatte, allein zurück nach Chadwick Park zu reisen, in der Postkutsche!
In ihrem Zimmer schmiss sie sich auf das Bett und vergrub ihr bleiches Gesicht in den weichen Kissen. Das Zimmer war vollgestellt mit persönlichen Dingen, die meisten aus Barks End. An der Wand über dem Kamin hing ein Familienporträt, das ihr Vater in dem Jahr vor Ernests Tod in Auftrag gegeben hatte und ihre glückliche, kleine Familie zeigte. Elizabeth war sechzehn gewesen und Ernest vierzehn. Aus dem schlaksigen Kind entwickelte sich langsam ein junger Mann, und Elizabeth hatte ihren kleinen Bruder immer damit aufgezogen, dass sie ihn eines Tages vor den Mädchen, die es gewiss auf ihn abgesehen hätten, wenn er bloß erst aus dem Stimmbruch heraus wäre, würde beschützen müssen. Binnen drei Wochen war er an einer simplen Erkältung gestorben, zumindest hatte der eilig gerufene Dorfarzt eine solche diagnostiziert. Elizabeth hatte sich nicht einmal von ihm verabschieden können, hatte ihre Mutter sie doch nach Dartmoor geschickt, damit sie sich nicht ansteckte! Verzweiflung brach über sie herein und es kam ihr so vor, als gäbe es kein schlimmeres Unglück mehr, das sie noch befallen könnte, hatte sie doch bereits alle erlebt. Sie sollte sich geirrt haben.
London, Marlborough House, eine Woche zuvor
„Ich verstehe das nicht! Es ist, als wäre sie spurlos verschwunden!”, lamentierte Jordan St. John mindestens zum fünften Mal und genehmigte sich einen weiteren tiefen Schluck aus seinem Brandyglas. Sein Freund, der Viscount of Southampton, seufzte schwer, bemüht, nicht die Augen zu verdrehen. Tatsächlich hielt er die Geschichte des mittlerweile deutlich angeheiterten Marquess für immer unglaubwürdiger. Wie wahrscheinlich war es schon, dass ein junges Mädchen in einem verdammt gewagten Kleid ausgerechnet dem Mann in die Hände fiel, dessen Geliebte dasselbe Kostüm trug – das überdies eine Spezialanfertigung war? Natürlich fasste er seinen Zweifel nicht in Worte, war sich Aylesbury doch so verdammt sicher.
„Vielleicht war sie wirklich eine Göttin”, mutmaßte er stattdessen und warf Jordan über den Rand seines Glases einen spöttischen Blick zu.
„Oder eine Fee.”
Jetzt war es an Jordan, die Augen zu verdrehen, hörte er die wenig hilfreichen Neckereien seines Freundes doch nicht zum ersten Mal. Nein, Aphrodite war aus Fleisch und Blut gewesen, sie war keine Einbildung und ganz sicher nicht Lady Saunders!
„Verdammt Daniel, die Sache ist ernst”, grummelte er und stapfte wütend zur Bar. Ohne seinem Freund Nachschub anzubieten, füllte er sein Glas und nahm die Flasche dann gleich mit zu der kleinen Sitzgruppe, die den Kamin in der Bibliothek seines Elternhauses säumte. „Ich muss sie unbedingt finden!”
„Warum?” Eigentlich hatte sich Daniel diese Frage verkneifen wollen, da er sich sicher war, dass Jordan nicht einmal selbst so genau wusste, warum sie sich in den letzten beiden Wochen auf die vergebliche Suche nach seiner Aphrodite gemacht hatten. Sie hatten nichts herausgefunden! Rein gar nichts. Madame LeClerc bestand darauf, dass das
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