Verzeihen
räusperte sich. Sie schluckte. Trank einen Schluck.
Verschluckte sich. Sie musste husten. Der Saft war viel zu kalt.
»Bitte…«
Schilff hob die leere Bierdose und schnippte mit dem Finger dagegen wie gegen ein Weinglas. Neigte den Kopf und horchte grinsend. Dann stellte er die Dose an die Tischkante, als wäre dies der vorgeschriebene Platz dafür. Er rückte sie sogar zurecht. Dann bückte er sich und riss eine weitere aus dem Sechserpack.
»Ich werd sterben…«, sagte Ariane.
»Yes please«, krächzte Schilff. Trank. Leckte sich die Lippen.
Blickte auf die Essensreste.
Arianes Atem rasselte. Sie hätte gern noch eine Scheibe Brot gegessen. Sie hatte nicht die Kraft, den Arm auszustrecken. Sie senkte den Kopf. Ihre Schultern fielen nach unten. Ein magnetischer Schmerz zog ihren Körper in die Tiefe. Und sie hätte sich diesem Schmerz hingegeben, endlich, aber da war ein Gesicht, das nicht verschwand. Eine Stimme, die nicht endete. Und die Berührung kostbarer Wolle auf ihrer nackten Haut.
»Ich hab einen Wunsch…«, sagte sie mit aller Anstrengung, zu der sie fähig war.
»Bin ich der Weihnachtsmann?«, schrie Schilff. Und stieß aus Versehen die Dose um. Bier schäumte heraus. Er schleuderte sie durchs Zimmer.
Ariane hatte Angst vor ihm. Mit dem kahl geschorenen Schädel wirkte er auf sie wie der Gutsherr aus dem schlimmsten ihrer Träume. Den Gutsherrn hatte sie nie gesehen. Sie hatte ihn sich nur vorgestellt. Nun saß er vor ihr. Riss den Verschluss von einer Dose, hielt diese einige Zentimeter über seinen Mund und ließ das Bier in sich hineinlaufen.
Das war die letzte Chance zu sprechen. »Ich bitte… ich bitte Sie um… um etwas… Gehen Sie bitte zu… zu dem Mann, der mich… der mich infiziert hat, und fragen Sie ihn, warum… warum er das getan hat…« Sie keuchte. Der Hals tat ihr weh.
Nichts tat ihr nicht weh.
»Wenn du mich noch einmal siezt, knebel ich dich!« Das Bier rann über sein schwarzes Jeanshemd. Er schaute zu ihr hinüber. Sie sah den Schweiß auf seiner Stirn. Dann stellte er die Dose hin. Langsam. Als wolle er kein Geräusch machen. Stand auf. Und ging um den Tisch. Neben Ariane kniete er sich mit einem Bein auf den Boden. Und nahm ihre Hand. Zehn Finger in Eis.
»Du kennst den Mann?«, fragte er. Sein Blick veränderte sich.
Ariane hatte den Eindruck, er würde sie zum ersten Mal wirklich ansehen.
»Ja«, sagte sie. Und tat etwas auch für sie Überraschendes. Sie legte ihre andere Hand flach auf seinen kahlen Kopf. Und er redete einfach weiter.
»Ich weiß doch, warum er das getan hat, ich brauch ihn nicht zu fragen, ich weiß doch, warum. Er wollte dir ein Geschenk machen. Jetzt bist du nicht mehr allein, jetzt gehörst du dazu.«
»Wo denn dazu?«, fragte sie so leise, dass sie ihre eigene Stimme nicht hörte. Und sie setzte noch einmal an. »Wo… wo gehör ich jetzt dazu…«
»Zu den Erwählten.«
Er spürte, wie sich ihre Hand auf seinem Kopf verkrampfte.
Und sofort wünschte er, ihre Nägel würden sich in seine Haut krallen. Bis Blut kam. Bis das Blut ihm in die Augen tropfte.
»Bitte… gehen Sie zu ihm und… und fragen Sie ihn…«
»Ich hab dir verboten mich zu siezen«, sagte er ruhig.
»Bitte«, sagte sie. Mit einem Ruck nahm sie die Hand von seinem Kopf.
»Warum?«, fragte er. Er sprang auf. Holte Luft. Und rülpste laut.
»Sie Drecksau!«, sagte sie.
Ohne auszuholen schlug er ihr ins Gesicht. Sie weinte nicht. Er nahm die Dose. Trank sie leer. Zwei Dosen waren noch übrig.
»Jetzt knebel ich dich!«
»Nein!«, rief sie. »Ich… ich hab heute Geburtstag.« Sie hatte sich geschworen, es ihm nicht zu sagen.
»Was?«, sagte er. Hielt einen Moment inne. Stellte die Dose hin.
Bückte sich nach den beiden anderen. »Du hast Geburtstag? Am Heiligen Abend? Das ist Pech.« Er riss die Verschlüsse ab.
»Darauf stoßen wir an.«
Sie ekelte sich vor dem Bier. Er streckte den Arm aus. Hielt ihr die Dose vors Gesicht. Und wartete. Widerwillig nahm sie sie.
Und bevor sie sie noch richtig in der Hand hatte, stieß er mit seiner dagegen. Sie ließ ihre Dose fallen.
»Dämliche Kuh!« Er hob die Bierdose auf und gab sie ihr zurück. Nach dem ersten Schluck hustete sie. Und würgte.
»Möglicherweise dein letzter Geburtstag«, sagte er. Sie krümmte sich und wäre am liebsten unsichtbar geworden in dem Mantel, den anzuziehen er ihr erlaubt hatte.
Was Iris gerade machte? Hatte sie das »Glücksstüberl« geöffnet? Darüber hatten sie diskutiert.
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