Verzweifelte Jahre
anderes existierte nicht für mich. Die Möglichkeit war angesprochen worden. Ich hatte sie immer ausblenden können. Jetzt entkam ich dem Bild nicht mehr. Ich schloss die Augen. Es war noch da. »Wenn einer sie in die Donau geschmissen hat, ist sie abgetrieben«, sagte ein Polizist. »Spätestens dann haben wir sie«, sagte ein Kollege. Spätestens dann haben wir sie. Spätestens dann haben wir sie. Spätestens dann haben wir sie. Der Satz hallte in meinem Kopf wider. Hin und her zwischen den Schädelknochen. Ein Pingpong des Horrors. Lass es aufhören, betete ich, lass es aufhören. Neue Zeitungen. Neue Abgründe. Sie nannten mich Prügelmutter. Aus dem Klaps aus dem Polizeiprotokoll war Kindesmisshandlung geworden. Ich, die Rabenmutter. Ich, das Monster. Das Schicksal hatte wieder ausgeholt. Wie viel kann ein Mensch ertragen? Ich ließ mich zur Seite sinken und rollte mich auf der Couch zusammen. Ich zog mir die Decke über den Kopf und vergrub mich in meinem Schneckenhaus. Nichts mehr sehen. Nichts mehr hören. Nichts mehr denken. Ich tauchte ein in einen See aus Dunkelheit. Unter Wasser moosgrüner Friede Lichtstrahlen tanzen auf Seerosen Natascha neben mir sie nimmt meine Hand ihre Finger sind warm wir schweben eine leichte Strömung trägt uns wir können atmen ein Schatten schiebt sich über uns schwimmt mit Natascha dreht sich zu mir sie lächelt den Schatten weg ein Fischschwarm kreist uns ein Natascha streckt die Hand aus sie will mir was zeigen ein Taucher kreuzt unseren Weg er trägt einen roten Anorak er sieht uns nicht ein Gitter versperrt uns den Weg die Stäbe stehen eng beieinander sie sind weich Natascha schwimmt durch sie zieht mich mit auf der anderen Seite ist es dunkler die Fische sehen aus als würden sie lachen ich schaue nach unten Schlingpflanzen winken mir zu auf dem Grund liegt eine Rasierklinge Natascha schüttelt langsam den Kopf ein anderes Gitter kommt näher die Strömung schiebt Natascha nach vorne sie schwimmt durch die Stäbe rosten vor mir ein Gesicht. Natascha öffnet die toten Augen.
4
Zwischen Leben und Tod, sagt man, liegt ein schmaler Grat. Meiner war eine Armlänge breit. Ich brauchte nur die Hand auszustrecken, um das Telefon zu erreichen. Ich rührte keinen Finger. Ich weiß nicht, wie lange ich so dalag. Ich starrte ein Loch in die Zeit und hoffte, dass mir wärmer werden würde. Hatte ich heute schon gegessen? Es spielte keine Rolle. Auf dem Tisch neben der Couch stand noch eine Tasse mit kaltem Kaffee. Der Aschenbecher quoll über. Ich suchte meine Zigaretten. Ich hatte sie in der Küche liegen lassen. Ich schälte mich aus der Decke, ging hinüber und machte eine neue Packung auf. Ich nahm einen tiefen Zug, blies langsam den Rauch aus und sah ihm zu, wie er sich zum Plafond kräuselte und dort oben hängen blieb. Die Luft war abgestanden. Das Nikotin hing grau in den Vorhängen. Ich zog sie zurück und öffnete die Balkontür. Es war kühl draußen, ich sog den Sauerstoff ein und hustete. Eine Armlänge vor der Brüstung blieb ich stehen. Obwohl. Nicht ich blieb stehen. Ich wurde stehen geblieben. Mein Hirn funktionierte noch. Aber nicht in meinem Körper. Es machte sich selbstständig und besah sich die Statue, die da auf dem Balkon stand, als hätte der Bildhauer mich dort vergessen. Ich wollte mir eine Strähne aus dem Gesicht streichen. Meine Hand reagierte nicht. Gliedmaßen aus Stein sind unbeweglich. So also sehen mich die Leute. Der Künstler hatte gut gearbeitet. Ein Realist. Keine Furche fehlte in meinem Gesicht. Und jede erzählte eine Geschichte. Nur die langweiligen Stellen hatte er ausgelassen. Und alles, was einmal schön gewesen war. Es hatte doch so gut begonnen. In einer Familie, die ihre Kinder liebte. Mit zwei Brüdern, die dir die Welt erklären. Einer um acht Jahre älter. Einer bloß vierzehn Monate . Bei ihm hatte sich die Nabelschnur um den Unterarm gewickelt, er kam mit nur einer Hand auf die Welt. Ich war seine Beschützerin, wenn ihn die Kinder Krüppel schimpften. Für uns war er nicht behindert. Einmal sind wir mit der Straßenbahn gefahren, da sagte eine Frau zu ihm, ja mein Gott, warum hast du denn nur eine Hand? Sag ich zu ihr, die hat er im Ersten Weltkrieg verloren. Sagt sie, sei nicht so frech. Eine andere Frau mischt sich ein, hast schon recht, sagt sie, die braucht nicht so blöd fragen. So war das. Vom Älteren hab ich gelernt, was mir sonst noch gefehlt hat. Pfeifen mit den Fingern. Und er hat immer aufpassen müssen auf mich
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