Verzweifelte Jahre
vorwiegend Mädchen gewesen, die er gehört habe, und mehr ein Schreien als ein Lachen, bevor es wieder komplett still war. Die Beamten setzten sich etwas aufrechter hin. Die Erklärung, sagte der Anrufer, seien diese Erdstrahlen. Überall, wie ein Netz würden sie sich über ganz Wien ziehen, ausgebreitet von Außerirdischen, das sei klar. Die brauchten Menschenmaterial, um das Überleben ihrer Spezies zu sichern. Herzen, Leber, hauptsächlich Nieren, da sei er noch am Überlegen, warum. Die Antwort ist Falco, schrie ein anderer ins Telefon, hab ich jetzt gewonnen? Bei ihm unterbrach der Beamte selbst das Gespräch. Seltsamerweise riefen in den ersten Stunden vor allem Männer an. Einer wollte mich treffen, im Café Servus auf der Mariahilfer Straße. Er habe mein Bild in den Zeitungen gesehen und fände mich gar nicht so zuwider. Und Aug in Aug redete es sich doch leichter. Dazwischen immer wieder ein paar Rotzpippen. Schulkinder, die sich einen Spaß draus machten und in der Pause die Helden spielen wollten. Und junge Männer mit Akzent, die wissen wollten, ob ich eine exträmm gute Lada mit Tauschgetriebem kaufen möchte. »Geschdaddn: Boschbischil«, lallte einer gegen Mittag. »Das is alllles weng die Scheisdroddln von der Giberei, duan nigs, findn nigs, leisdn nigs. Bolissei, berlusdriern, ermiddln, Leud verhafden, min Blaulichd fahrn, dadü-dada, bein Idalener schdehnbleim, Bisseria Da Luidschi, auf eine gleine Gabridschosa, verschdehsd? Dein Freund und Helfa, dassichnichdlache. Fiedaschaun, Frau Na... Nadascha.« Und jede Menge Denunzianten. Wie eine Frau aus der Per-Albin-Hanson-Siedlung, die den Hausmeister in Verdacht hatte. Der schaue ihr so verdächtig aus, flüsterte sie, wenn die Mädchen von der Schule heimkommen, gebe er ihnen Zuckerl, das kann kein Guter sein. Die Anrufer, die wirklich Hinweise zu haben glaubten, waren rar. Ein Mann hatte etwas zu dem weißen Lieferwagen zu sagen, das weder ganz verrückt noch irgendwie so klang, als beziehe er seine Informationen aus dem All. Eine ältere Dame sah Ähnlichkeiten mit Natascha bei einem Teenager ein paar Häuser weiter. Ungarn kam ein paar Mal wieder auf, und eine Spur sollte angeblich nach Wels führen. Zu der Zeit war ich schon einigermaßen erschöpft. Ich riss gerade das dritte Packerl Zigaretten auf, als jemand ein paar Sekunden schwer ins Telefon atmete, sich räusperte und sagte: »Ich hab die Natascha .« Das Wohnzimmer war plötzlich wie aufgeladen. Ich muss etwas sagen, dachte ich, ich muss ihn eineinhalb Minuten in der Leitung halten. Keine direkten Fragen, hatte der Beamte gesagt. »Wie meinen Sie das ?« »So, wie ich es sag.« Die Stimme klang nicht unsympathisch. Ruhig und bestimmt, man glaubte ihr. »Geht es ihr gut ?« Keine Antwort. »Kann ich mit ihr sprechen ?« Schweigen. »Sind Sie noch dran ?« Atmen. »Wie soll ich wissen, ob Sie die Wahrheit sagen ?« »Das kann man nie genau wissen .« »Was wollen Sie jetzt ?« »Ihre Stimme hören .« Eine Minute um. »Gut, was soll ich tun ?« »Auf die Post warten .« »Warum?«
»Vielleicht schicke ich Ihnen ja was von Natascha. Einen Finger.« Mir drehte sich der Magen um. Ich wollte schreien. Noch zwanzig Sekunden. »Bitte tun Sie ihr nichts. Ich mache alles, was Sie sagen .« »Alles. Da fallen mir gleich ein paar lustige Sachen ein .« »Machen Sie mit mir, was Sie wollen, aber lassen Sie meine Tochter frei .« Noch acht Sekunden. Ich musste es irgendwie schaffen. Der Beamte nickte, hob die Hände und zählte mit den Fingern den Countdown herunter. Sieben. Sechs. Fünf. »Ich bin ganz in Ihrer Nähe«, sagte der Mann. Drei. Zwei. »Wo? Wo sind Sie ?« Die Verbindung war unterbrochen. »Haben wir ihn ?« , rief der Beamte. »Ich kann’s noch nicht sagen, es war knapp«, sagte der Techniker. »Komm schon«, sagte der andere Polizist, »das muss reichen, es waren neunzig Sekunden«. »Hab ihn«, sagte der Techniker. »Millenniumstower.« »Einsatzgebiet Millenniumstower«, sagte der Dritte in sein Handy, »Zielperson unbekannt. Männlich, mittleres Alter.« »Jetzt hab ich’s genau«, sagte der Techniker, »der Anschluss gehört zu einem Lederwarengeschäft .« »Wir schlagen zu .«
*
Jäger eins in Position. Geschäft wird observiert. Vier Personen. Drei Frauen, ein Mann. Jäger zwei vorrücken. Jäger drei stopp . Passanten aus der Schusslinie. Jäger eins Sicht auf mögliche Zielperson. Mann, weiß, Mitte dreißig, einsfünfundsiebzig. Dunkle Haare.
Jäger zwei bestätigt.
Weitere Kostenlose Bücher