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Verzweifelte Jahre

Verzweifelte Jahre

Titel: Verzweifelte Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitta Sirny-Kampusch
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Zähne, frisiere mich. Ich schaue dabei in den Spiegel, aber ich sehe mich nicht. Alles ganz mechanisch. Rituale haben eine segensreiche Macht über die Menschen. Man simuliert damit die Normalität. »Ja«, nickte Herr Tsekas, »das verstehe ich, und es ist gut, dass Sie sie nicht durchbrechen .« Ich hörte sein Lob gern. Nicht, dass ich sonst keine Anerkennung bekam. Die eigenen und auch wildfremde Leute, die mich ab und zu auf der Straße oder in einem Geschäft ansprachen, sagten mir immer wieder, wie bewundernswert meine Haltung wäre. Meine Kraft, meine positive Einstellung. Auch das tat gut, aber niemand begriff, wie unendlich aufreibend es war, die vielen kleinen Dinge des Lebens zu erledigen. Dass die Folter im Detail lag. Andere gehen in den Supermarkt und kaufen die Zutaten für ein Familienessen am Wochenende. Bei dem alle um einen großen Tisch sitzen, sich Belanglosigkeiten erzählen und über Nichtigkeiten lachen. Ich muss mich schon aufraffen, um ein Netz Erdäpfel zu kaufen, die ich mir abends manchmal koche und mit Butter esse. Oder Nachschub an Nudeln zu besorgen, die ich mir zustelle und dann mit Zwiebeln oder Knoblauch anbrate, das ist meine Lieblingsspeise geworden. Sofern jemand, der nie Appetit hat, von Lieblingsspeise reden kann. Es gibt auch Tage, an denen ich nur ein Sackerl Maiskörner ins Backrohr stelle und warte, bis es zu Popcorn zerplatzt. »Ich esse das auch gern«, sagte Herr Tsekas, »es geht schnell und gibt aus .« Wenn ich aus dem Haus gehe und zur Ausgabestelle von Essen auf Rädern fahre, wird es ein bisschen besser, erzählte ich ihm. Da kann ich mich auf den Verkehr konzentrieren, und meine Gedanken rennen irgendwie mit, ohne dass ich sie großartig beachten muss. Wenn ich mir was wünschen dürfte, dann, dass einer mir den Schalter zeigt, mit dem man das Denken abstellt. Was für ein Geschenk! »Ich weiß genau, was Sie meinen«, sagte Herr Tsekas, »ich werde mich in der Richtung schlau machen .« Ja, und dann bin ich den ganzen Tag unterwegs, fuhr ich fort. Am Vormittag Essen auf Rädern. Ein Haus nach dem anderen, Kundschaft auf Kundschaft, aussteigen, Essen rauftragen, ein paar nette Worte sagen, zum Auto gehen, einsteigen, starten, fahren, parken, aussteigen, Essen rauftragen... Danach alles, was sonst erledigt werden muss. Lauter kleine Schritte bis es dunkel wird, lauter kleine Handgriffe bis Mitternacht. Die Endlostage habe ich am liebsten, sie machen müde. Ich falle auf die Couch und freue mich, dass mir die Füße wehtun. »Das kann ich mir vorstellen«, sagte Herr Tsekas, »Erschöpfung ist eine wunderbare Erfindung, körperliche Erschöpfung .« Das Einzige, was ich wirklich gut auf der Reihe habe, sagte ich ihm, ist mein Zigarettenbestand. Zwei Packerl am Tag, irgendwo aus einer Trafik, an der ich gerade vorbeikomme. Das funktioniert. Apropos funktionieren, das ist ein viel treffenderer Ausdruck als leben. Ich weiß nicht, ob wir das Jahr 1999 oder 2001 haben, ich bewege mich durch die Zeit, als hätte ich Rauschgift genommen. Herr Tsekas lächelte mich an, fuhr sich mit den Fingern durch seine Haare, die er für sein Alter, ich schätzte ihn auf Mitte vierzig, etwas länger trug, und zog sich seinen Pullover an. »Bis zum nächsten Mal, Frau Sirny«, sagte er und kramte in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel fürs Fahrradschloss, »wir sehen uns in vierzehn Tagen, außer Sie brauchen früher was, dann... « Er zog sein Handy aus seiner Jacke und wedelte damit vor mir herum. »Sie rufen, ich komme«, sagte er. Den Mann hatte der Himmel geschickt.

*

    Es gab auch Tage, an denen ich nicht redete. An denen mir jedes Wort zu viel war. Es muss gedacht werden, an den Stimmbändern vorbei in den Mund geschoben, dort mit der Zunge geformt und zwischen den Lippen auf die Welt gebracht werden. Die Mühe konnte ich mir nicht immer machen. Ich spürte das schon vor dem Aufstehen. Heute verhalte ich mich still, beschloss ich dann und beschränkte mich auf das Murmeltierdasein.
    Es war nicht genau wie in dem Film, in dem ein Mann ständig denselben Tag erlebt, ihn aber von Mal zu Mal, weil er schon weiß, was passieren wird, besser meistert. Meine Tage unterschieden sich zwar auch kaum voneinander, nur besser wurde nichts. Außer, dass ich mich daran gewöhnte, die Leere in meinem Leben mit mehr oder weniger sinnvollen Tätigkeiten zu füllen.
    Die Gewöhnung. Auch so eine wohltuende Einrichtung im menschlichen Dasein. Selbst wenn es unmenschlich wird, auf sie kann man

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