Verzweifelte Jahre
los bei dir? Ich les grad die Zeitung mit der Telefonnummer... « »Claudia.« Ich blies die Luft aus. »Geh aus der Leitung, wir wollen... ich erklär’s dir später, okay ?« Ich legte auf. Wir warteten. Es läutete. »Sprech ich mit Frau Brigitta Sirny?«, piepste es, »einen wunderschönen guten Morgen, mein Name ist Gerlinde Gross, ich bin von der HMS Marketingforschung, ruf ich eh nicht zu früh an?, wir machen nämlich eine Umfrage über die Aufstehgewohnheiten der Österreicher, sind Sie schon wach?, oje, blöde Frage, haben Sie ein paar Minuten Zeit für mich?, nur ein paar ganz kurze Antworten, haben Sie einen geregelten Tagesablauf? Wann ist... « »Ganz schlechter Zeitpunkt, Frau..., kein Interesse, Wiederhören.« Ich legte auf. Der Beamte schüttelte den Kopf. »So geht’s nicht, Frau Sirny, das waren höchstens zehn Sekunden, ich hab Ihnen doch erklärt, dass wir mehr Zeit brauchen .« »Das war eine Umfrage«, verteidigte ich mich, »Sie haben doch die Piepsstimme gehört ?« »Ja, aber da hätte auch wer wen vorschicken können, um die Lage auszuloten. Es kann alles von Bedeutung sein .« »Na ja, bei der... « , nahm mich der andere in Schutz. »Beim Nächsten mach ich es besser«, versprach ich, »ich mache das ja auch zum ersten Mal .« Wir warteten. Es läutete nicht. Wir warteten. »Es sind gerade erst die Zeitungen ausgeliefert«, beruhigte mich der Techniker. Es läutete. »Sirny.« Meine Stimme war schon viel fester. »Mein Name tut nichts zur Sache«, sagte eine Männerstimme. Der Beamte, der das Gespräch mit dem Kopfhörer verfolgte, streckte den Arm in die Höhe und gab den anderen ein Zeichen, wie bei einem Startschuss. »Nur so viel zu meiner Person, ich bin Hofrat, Wirklicher Hofrat, im Ruhestand, aber wie gesagt... ich rufe an, weil ich etwas Grundsätzliches zu sagen habe. Was Ihnen passiert ist, hängt mit den Mechanismen zusammen, die in unserer Gesellschaft zu einem schmerzlichen Verfall der Werte geführt hat. Verstehen Sie, Werte, das ist ein Wort, das heute ausschließlich in materiellem Kontext verwendet wird. Die Konsumgesellschaft hat Generationen von Jugendlichen hervorgebracht, deren Leben ein sinnentleertes Hintereinander von vergeudeten Möglichkeiten... jetzt weiß ich nicht mehr genau... jedenfalls dräut da etwas herauf, das... jetzt nicht, Martha, Sie sehen doch... wo waren wir ?« »Bei den vergeudeten Möglichkeiten«, sagte ich. Der Beamte am zweiten Hörer nickte und ließ seine Hand vor sich kreisen, weiter so. »Ja, ja, Möglichkeiten. Die wir damals alle nicht hatten, im Krieg. Ich war in Stalingrad, wissen Sie, so was kennen die jungen Leute ja nicht mehr. Zweiundvierzig Grad unter Null, das war warm! Einundzwanzig war ich, können Sie sich vorstellen, was das heißt? Ich meine, so als junger Mann... Da hat einer dem anderen noch helfen müssen, Tod oder Leben, einer hat noch die Schuhe ausgezogen und mir gegeben, bevor er gestorben ist, der hatte noch bessere Sohlen... « Der Beamte schrieb etwas auf einen Zettel und schob ihn mir hin. Natascha stand drauf, Fragezeichen. »Hören Sie«, unterbrach ich den Hofrat, »das tut mir alles sehr leid, aber Sie wissen schon, dass es hier um meine Tochter geht, wir hoffen auf Hinweise wegen der Natascha .« »Ja, davon red ich ja. Sehr interessanter Fall von der soziophilosophischen Komponente, ich hab das verfolgt, von Anfang an, das Kind, extemporiert, ich hab gleich zu Martha gesagt... « Der Beamte fuhr sich mit dem Finger quer über die Kehle. Ich legte auf. »Ich hab ja gesagt, es kann ein bisschen anstrengend werden«, sagte er und tätschelte mir den Rücken. »Sie machen das gut .« Ich wollte mir einen frischen Kaffee holen, aber das Telefon stand nicht mehr still. Die nächsten Anrufer waren nicht weniger redselig. Ich bin immer davon ausgegangen, dass der Rest der Welt so handelt und denkt wie ich. Ich bin freundlich, ich grüße, ich tue niemandem weh, nehme keinem was weg, und habe geglaubt, das machen alle anderen auch so. Mit Ausnahmen des Irren, der meine Tochter gefangen hielt. Aber im Laufe der nächsten Stunden kam ich drauf, dass siebzig Prozent der Bevölkerung gestört sind. Quer durch, vom Hofrat bis zum Ar beitslosen. Aus dem sechzehnten Bezirk, Thaliastraße, kam ein Anruf, der zuerst ganz vielversprechend klang. Ein Mann hatte Bedenken wegen eines Nachbarn, der ihm komisch vorkam. Manchmal, sagte er, kämen Kinderstimmen aus der Wohnung, aber der hätte gar keine Kinder. Es wären
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