Video-Kid
Großer Gott, weißt du eigentlich, wie lange es her ist, seit ich zum letztenmal etwas gegessen habe?«
»Das letzte, was ich zu mir genommen habe, waren einige leicht angeschimmelte Riegel Schokolade«, sagte ich sehnsuchtsvoll, und schon bei dem bloßen Gedanken lief mir das Wasser im Mund zusammen.
»Komm, wir wollen Anna wecken«, sagte Moses. »In dem Schacht schläft sie sicher bequemer. Die Sonne brennt in dieser Höhe gnadenlos; denn hier oben gibt es weniger Wolken. Wenn das Mädchen nicht bald in den Schatten kommt, erleidet sie schwere Verbrennungen.«
Wir fanden Anna in der Nahtstelle zwischen drei Zellen liegend. Ihr Gesicht wies bereits eine ungesunde Röte auf, und die Augen waren so verquollen, daß sie sie kaum noch öffnen konnte.
Moses schüttelte die verbrannten Finger einer ihrer ausgestreckten Hände. »Anna, wach auf.«
Anna zwang die Augen auf und verzog schmerzhaft das Gesicht. »Ich hatte einen verrückten Traum«, sagte sie. »Ich hörte, wie um mich herum etwas sprang und schlug. Es kam direkt aus der Insel.«
»Ach«, sagte Moses. Er sah hinab auf die Zelle, auf der er gerade stand, aber die weiße Haut war zu milchig, um etwas unter ihr ausmachen zu können.
»Aber Kid! Du bist ja nackt!« Anna bedeckte ihr Gesicht.
»Daran wirst du dich wohl gewöhnen müssen. Je eher, desto besser«, sagte ich.
»Damit hat er recht, Anna«, sagte der Gründer. Nicht ohne Mühe riß er sich die einteilige Unterwäschekombination vom Leib und warf sie fort. »Das Salz in unseren Kleidern wird uns die ganze Haut aufreiben. Natürlich steht dir ohne Kleider ein fürchterlicher Sonnenbrand bevor, aber Kid und ich haben für dich ein schattiges Plätzchen vorbereitet.«
»Niemals ziehe ich meine Kleider aus«, erklärte Anna mit aller Entschiedenheit. »Außerdem ist nicht viel Wasser in meine Sachen eingedrungen. So, wie ich jetzt bin, ist alles in Ordnung.« Das angetrocknete Salz mußte ihr Heiligengewand furchtbar kratzig und unbequem machen, aber Annas bizarre Sittsamkeit ließ keine andere Lösung zu, mochte sie sich auch noch so sehr quälen. Moses sah sie zweifelnd an und meinte dann: »Na ja, zumindest kannst du dir das Zelt ja einmal ansehen. Die Sonne steht schon recht hoch am Himmel. Spürst du die Hitze denn nicht im Gesicht?«
Da sie sich immer noch weigerte, unsere Nacktheit anzusehen, eilte Anna uns voraus. Das eine oder andere Mal glitt sie aus, sprang jedoch stets rasch wieder auf ihre in weißen Turnschuhen steckenden Füße. Vor dem Schacht blieb sie dann stehen.
»Oh, das ist aber schön!« rief sie. »Sieh sich einer bloß dieses überschüssige Material an. Daraus können wir doch Kleider machen. Und Umhänge. Und Sonnenschirme.«
»Da müßtest du aber sehr begabt sein, wo wir doch keinerlei Werkzeuge haben«, sagte ich säuerlich. »Davon abgesehen kriegst du mich nicht dazu, solches Zeug am Leib zu tragen. Ich habe schon einen Sonnenbrand.«
»Nun höre doch endlich damit auf, sie immer zu verspotten«, sagte der Gründer milde. »Komm, Kid, wir wollen auf die Spitze des Ballons steigen. Dort haben wir die beste Übersicht. Ich möchte mich dort gern umsehen, solange es noch nicht zu heiß geworden ist und ich noch genügend Kraft für eine solche Kraxelei habe.« Nach dieser wenig herzerfrischenden Bemerkung machten der Gründer und ich uns auf den Weg zum Scheitelpunkt des Ballons. Die phosphoreszierenden Punkte auf den Gaszellen begleiteten uns mit ihrem Glühen, auch wenn sie im starken Sonnenschein blaß aussahen. Sie wirkten ganz so, als stünden sie kurz vor dem Erlöschen und saugten nun gierig das Sonnenlicht ein, um die nächste achtzehnstündige Nacht hindurch strahlen zu können.
Die Aussicht vom höchsten Punkt war einmalig. Keinerlei Brise wehte hier, denn der Ballon wurde mit der gleichen Geschwindigkeit wie der Wind durch die Luft getragen. »Wir befinden uns mindestens anderthalb Kilometer über dem Meeresspiegel«, erklärte Moses mit der Stimme eines Wissenschaftlers.
»Sieh doch«, sagte ich, »man kann durch diese Wolken dort Telset sehen.« Ich zeigte mit dem Finger dorthin, und sofort schoß ein unangenehm stechender Schmerz durch meinen mitgenommenen Arm.
Weit unter uns konnten wir den Golf sehen: wie mit einer Krause war er von leichten Wellen umgeben, und ein zartes, weißes Plateau aus Morgenwolken lag darüber. Sonnenlicht reflektierte im Osten vom Meer und blendete uns. Im Westen konnten wir in einer Entfernung von gut hundertfünfzig
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