Viele Mütter heißen Anita
Mutter schauen.«
Das Zimmer Anitas lag drei Türen weiter. Hier saß Dr. Albanez am Bett und vertrieb sich die Zeit mit dem Studium der medizinischen Wochenschrift. Er erhob sich, als Moratalla eintrat.
»Nichts Neues«, sagte er leise.
Anita lag klein, verfallen, runzelig in den Kissen. Ihr altes, ledernes Gesicht verschwand fast in dem Weiß des Bettzeuges. Die Augen, von den dünnen Lidern halb verdeckt, lagen tief in den Höhlen. Es war ein Totenschädel, mit einer Haut überspannt, mit einer spitzen Nase und fast ohne Lippen.
Moratalla sah sie kurz an und erschrak. Das ist ja ein Verfall, durchfuhr es ihn. Sieht denn Albanez das nicht? Er riß die Bettdecke zurück und preßte das Stethoskop an die verbundene Brust.
Das Herz schlug … das verkleinerte Herz schlug wirklich … aber es klopfte hohl, es war, als löse jeder Schlag ein Verkrampfen aus.
Die Hand Moratallas fuhr über das Gesicht der Bewußtlosen. Kalter, dünner Schweiß lag in den Poren.
»Sofort Strophantin!« sagte er hart.
Seine Stimme riß die Ärzte herum. Dr. Tolax beugte sich vor.
»Was ist denn, Herr Professor?« stotterte er entsetzt.
»Strophantin! Schnell!«
Moratallas Stimme dröhnte. Dr. Albanez zog mit zitternden Fingern die Spritze auf und reichte sie hinüber. Der Körper Anitas zuckte, als Moratalla einstach und injizierte. Dann warf er die Spritze achtlos weg, setzte das Stethoskop wieder an und lauschte.
Fünf … zehn Minuten lag er halb über Anita und horchte ab.
Die Ärzte hinter ihm wagten sich nicht zu rühren. Sie sahen auf das Gesicht der alten Frau, auf diesen Schädel, der schon fern allen menschlichen Lebens war.
Der Atem ging etwas schneller und regelmäßiger. Moratalla erhob sich.
»Doktor Tolax«, sagte er leise. »Benachrichtigen Sie bitte alle Wartenden, daß Juan bei Bewußtsein ist. Aber keiner darf zu ihm. Auch nicht sein Bruder! Doktor Albanez und ich bleiben die Nacht über bei der Mutter …«
»Und was soll ich der Presse sagen?«
Moratalla zog die buschigen Augenbrauen zusammen. »Sie soll sich zum Teufel scheren! Es sei denn« – er senkte die Stimme und blickte Anita an – »Es ist einer unter ihnen, der bereit ist, sein Herz für diese Mutter zu opfern …«
Leiser, als er kam, verließ Dr. Tolax das dumpfe Zimmer.
Moratalla saß am Bett und lauschte dem Herzschlag.
Eins – zwei – drei – vier – fünf – zehn – fünfzehn – zwanzig – dreißig – fünfunddreißig …
Fünfunddreißig Schläge in der Minute! Und siebzig bis achtzig sind normal!
Moratalla zählte wieder, immer wieder, Minute nach Minute.
Fünfunddreißig … vierzig … Einmal sogar dreißig! Und dann wieder fünfzig!
Das Herz. Das verkleinerte Herz. Das Herz mit der Seidennaht …
Das Herz … das Herz …
In den Ohren Moratallas summte es. Er vernahm keine Schläge mehr, er hörte nur noch ein Brummen …
Da richtete er sich auf und sah Dr. Albanez aus starren Augen an. Sein Gesicht war gelb.
»Haben Sie schon einmal an ein Wunder geglaubt?« fragte er leise.
»Nein, Herr Professor.«
Moratalla nickte. »Dann müssen Sie es heute tun, Doktor Albanez.« Er legte das Stethoskop aus der Hand. Seine Hände waren feucht vor Erregung. »Ich werde auf ein Wunder warten …«
Im Gesundheitsministerium, das er nach seinem Besuch beim ober sten Staatsanwalt rasch aufsuchte und die neuesten Eingänge studierte, erreichte Prof. Dalias die Nachricht, daß Juan Torrico das Bewußtsein wiedererlangt habe und das Herz arbeite.
Er freute sich wie ein Kind darüber, rieb sich die Hände, steckte einige seiner besten Zigarren ein, um sie mit Moratalla zu rauchen, trank einige Kognaks und sagte sich, daß er eigentlich heute einen denkbar glücklichen Tag erlebe. Beim Staatsanwalt hatte er die Entlassung Granjas durchgesetzt, gegen den die Anklage wegen Mordversuchs eingestellt wurde und eine Klage wegen Körperverletzung in diesem Falle nicht vorlag, sondern nur eine tätliche Beleidigung im Affekt, für die sich ein Prozeß nicht lohnte. Und nun lebte Juan weiter, der einmalige Eingriff in der Geschichte der Herzchirurgie war Moratalla gelungen – was konnte es mehr geben, um Dalias in eine glückhafte Stimmung zu versetzen und ihn alle Pläne vergessen zu lassen, die er am Morgen noch als ausführungsreif betrachtet hatte.
Pilar und Concha, die aufgeregt im Kriminalgefängnis erschienen, konnte er noch schnell begrüßen, ehe er von Caniles abfuhr. Er überließ den Kommissar mit Schadenfreude den
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