Viele Mütter heißen Anita
ein einziges Märchen. Es soll sein Lebensmärchen werden!«
»Aber wir haben kein Recht dazu, Fredo!«
»Recht! Recht!« Campillo warf die Arme hoch, als müsse er Luft holen, als ersticke er plötzlich. »Das Recht haben wir in der Moral von der Einmaligkeit der Kunst! Juan Torrico kann in diesem einen Jahr der Welt Unsterbliches geben … Kühe hüten kann jeder Knecht!«
»Du vergißt die Mutter, Fredo.«
»Komm mir nur nicht mit der Träne im Auge! Das arme, alte Mütterchen! Die gute, zitternde Anita! Das Runzelweibchen mit dem treuen Blick und der Sehnsucht im tiefen Herzen!«
»Fredo! Das ist genug!« rief Dr. Osura laut. »Ich werde Anita noch morgen benachrichtigen. Ich fahre in der Nacht und komme dann pünktlich zur Abfahrt nach Madrid zurück.«
»Du bleibst«, rief Campillo.
»Warum?«
»Wenn du der Mutter Nachricht gibst, holt sie Juan nach Solana del Pino zurück.«
»Nein. Ich mußte den Kollegen in der Klinik versprechen, daß aus dem Bruch meiner Schweigepflicht keinerlei Schäden entstehen. Ich stehe auch dafür ein, daß Anita Torrico ihren Sohn uns überläßt.«
»Und wenn du dich irrst? Mütter sind unberechenbar, wenn es um ihre Kinder geht.« Auch Tortosa wurde unsicher. Er spielte nervös mit einem Brieföffner und blickte von einem zum anderen.
Dr. Osura schüttelte den Kopf.
»Ich kenne die Torricos seit Jahren. Ich weiß, wie es ihnen gesagt werden muß.« Er stockte. »Und überhaupt müssen wir erst das Urteil Moratallas abwarten.«
»Das Urteil«, sagte Tortosa bitter. »Es klingt, als ob man den Jungen auf ein Schafott führt …«
Und dann waren sie still und sahen gemeinsam aus dem Fenster auf den Tajo und das vielfältige Leben zu ihren Füßen. Und sie verstanden diese Welt nicht mehr und krochen in sich zurück mit der großen, erschütternden Frage, auf die es keine Antwort gab. »Mein Gott – warum hast du das getan?«
Über Toledo blitzte die Sonne, und die Kuppel der Kathedrale leuchtete gegen den Berg aus schwarzem Granit …
Es war Abend, und die Berge der Santa Madrona leuchteten im Rot der untergehenden Sonne wie feurige Klötze. Elvira saß auf der Bank vor der Tür, und sie hatte die Gitarre vor der Brust und spiel te kleine, schwermütige Lieder, die man sonst an den langen Win terabenden am Ofen singt, um die Zeit zu vertreiben und die Wärme herbeizusehnen. Pedro saß neben ihr und rauchte seine Pfeife – es war der letzte Tabak, und er wollte sich auch keinen mehr kau fen, um das Geld für die Fahrt nach Toledo rasch zusammenzubringen.
In der Küche klapperte noch Anita und räumte das wenige Steingutgeschirr weg in die alten Schränke hinter dem Tisch.
Es war eigentlich alles so wie immer, und doch war es anders. Ein Druck lag über allen, die mit erzwungener Fröhlichkeit diesen Abend mit dem flammenden Sonnenuntergang erleben wollten. Es war, als wehe kalte Luft vom Tal herauf und streiche mit einem Frösteln über die Körper der drei Menschen, die so eng miteinander verbunden waren, daß einer des anderen Leid und Glück erfühlte.
Juan schwieg. Schon fast eine Woche schwieg er, und er hatte doch versprochen, sofort zu schreiben, wie es ihm gehe und wie die große Stadt Toledo aussieht und was er treibe. Auch Dr. Osura war nicht zu Hause – Pedro hatte von Solana del Pino aus, vom Geschäft des Ricardo Granja, das als einziges ein Telefon besaß, in Mestanza und sogar Puertollano angerufen … der Doktor sei verreist, ließ man ihm sagen. Wohin, das wisse man nicht. Er sei plötzlich und in großer Aufregung gefahren. Vielleicht ein wichtiger Fall … das kann in der Santa Madrona auch einmal vorkommen …
Pedro hatte von diesem Anruf der Mutter und seiner Frau nichts erzählt. Sie sollten sich nicht ängstigen – es war genug, wenn er voller Sorge war und den Entschluß mit sich trug, in der nächsten Woche einfach nach Toledo zu fahren, mit der Mutter natürlich, und sich das noch fehlende Geld vielleicht bei Granja oder einigen Nachbarn zu leihen.
So saßen sie draußen im warmen Sonnenuntergang und lauschten auf die Töne aus Elviras Gitarre. Anita war nun auch da, sie stopfte Pedros Strümpfe, die sie über eine alte Glühbirne gezogen hatte und die sie als Stopfei benutzte. Man sprach nicht miteinander … was sollte man auch sagen? Daß der Garten schön stand? Daß das Vieh jetzt endlich satt würde und es einen guten und nahrhaften Winter geben würde? Oder war es so wichtig, daß der Nachbar ein totes Kalb geboren bekam? Das
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