Viele Mütter heißen Anita
Leben war so gleichförmig in der Santa Madrona, so gleichgültig und so selbstverständlich, daß es sich wirklich nicht lohnte, jeden Abend immer davon zu sprechen, auch wenn es in abgewandelter Form war.
Um so erstaunter waren die Torricos, als ein alter Ford den Weg zum Hof hinaufkeuchte und man den Wagen Dr. Osuras erkannte. Es ging wie ein Aufatmen durch den Körper Pedros, denn er erhoffte sich von diesem Besuch etwas Neues über Juan. Auch Anita wurde unruhig … sie erfüllte es mit Sorge, daß der Doktor ohne einen Anruf kam, und sie zitterte innerlich wieder um Juan, dem es vielleicht in der großen, fremden Stadt gar nicht gut ging oder der Sehnsucht hatte nach der Mutter, Heimweh … der kleine, arme Juanito …
Dr. Osura hielt vor der Scheune und stieg etwas steif aus dem Wagen. Niemand sah ihm an, daß er geradewegs aus Toledo kam … sein Wagen war immer staubig und ungepflegt, sein Gesicht hatte sich an Anstrengungen gewöhnt und drückte die lange Fahrt nicht mehr durch Müdigkeit aus.
Als er die Familie auf der Bank in der sinkenden Sonne sah, übergossen von dem Blut des Himmels, zuckte er leicht zusammen. Wie ein Symbol, dachte er ergriffen. Die Wartenden im Rot des Todes … Er kam langsam näher und drückte Pedro die Hand, der ihm die letzten Schritte entgegenkam.
»Willkommen, Doktor«, sagte er laut. »Sie bringen Neues?«
»Neues? Nein.« Dr. Osura klopfte Anita auf die Schulter und lachte sie an. Es war ein erzwungenes Lachen, aber niemand merkte es. »Ich wollte einmal sehen, wie weit das Wässerchen ist, mein Engel. Ich glaube, wir müssen bald wieder abzapfen, was?« Er sprach frivol, um das Zittern in seiner Stimme zu verdecken, das ihn verraten konnte. Dann faßte er Anita unter und meinte: »Komm, mein Täubchen, laß mich mal untersuchen. Ich werde nächste Woche eine längere Reise machen – da will ich vorher doch noch sehen, wie es der guten Anita geht …«
Er führte sie ins Haus, schloß das Fenster zu Juans Kammer und winkte Anita, sich auf das Bett zu setzen. Er selbst zog sich mit dem Fuß einen Schemel heran und hockte sich nieder. Gehorsam setzte sich Anita und legte die Hände gefaltet in ihren Schoß.
»Sie wollen mir etwas sagen, Herr Doktor?« fragte sie leise.
Dr. Osura zuckte zusammen. Erstaunt blickte er Anita an.
»Sie sind wirklich eine Hexe!« sagte er leise.
Anita lächelte schwach. »Das sagte mein Mann auch. Was ist mit Juan? Ist er sehr krank?«
Dr. Osura blickte an die kalte Wand. Man sah, wie es in seiner Kehle würgte, wie er mit sich rang und nach Worten suchte, um das Schreckliche schonend auszudrücken.
»Wir haben Juan in Toledo durch ein paar gute Ärzte untersuchen lassen. Wir haben in seinen Körper hineingeleuchtet. Er hat kein nervöses Herz, und er hat auch keine Kreislaufstörungen«, meinte er langsam.
»Aber er ist sehr krank?« Anita starrte Dr. Osura an.
»Momentan geht es ihm gut«, wich er aus. »Juan wird sogar nächste Woche für einen Monat nach Madrid fahren, um die schöne Stadt kennenzulernen. Dann wird er nach dem Norden fahren, dann nach Osten und Süden … Und sein Lehrer ist sehr zufrieden mit ihm. Er macht gute Fortschritte.«
»Aber er ist krank …«, beharrte Anita eigensinnig. »Warum sagen Sie es mir nicht, Herr Doktor? Warum wollen Sie mich quälen … ich weiß es doch!«
Dr. Osura rang die Hände und setzte sich dann neben Anita auf das Bett. Er legte den Arm um ihre Schulter und drückte die alte, kleine dicke Frau an sich, als müsse er sie beschützen. »Ja, er ist krank«, sagte er leise. »Wir wissen es jetzt. Er hat im Herzen ein Geschwür.«
Anitas Kopf sank an seine Brust, es war, als falle sie in eine Bewußtlosigkeit. So lag sie eine ganze Weile stumm an Dr. Osuras Brust, mit geschlossenen Augen, schluchzend und hilflos wie ein erfrierendes Tier. Dr. Osura streichelte ihr über die weißen, zotteligen Haare und über das braune, runzelige Gesicht, und auch in seinem Herzen waren Tränen und das schreiende Aufbäumen gegen ein Schicksal, das unabänderlich war.
Leise bewegte sich der Kopf Anitas. »Wann muß er sterben?« fragte sie flüsternd.
Dr. Osura schrak auf. »In zwei oder drei Jahren«, log er, um ihr etwas Mut zu machen.
»Und ihr Ärzte könnt ihn nicht retten?«
»Vielleicht doch, Anita.«
Da klammerte sich Anita an ihn fest und krallte die alten Finger tief in seinen Anzug. »Rettet ihn!« schrie sie mit glasigen Augen. Ihre Greisenstimme war brüchig und morsch. »Rettet
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