Vielen Dank für das Leben
Wasser war vorhanden.
Auf drei Etagen Schlaf- und Aufenthaltssäle, im Keller eine Ping-Pong-Platte. Der Keller war sehr kalt, auch im Sommer. Die Heizung lief immer zögerlich, im Winter gab es Eisblumen am Fenster, qualmende Mülltonnen im Hof, im Speisesaal wurden nahrhafte Kartoffelgerichte serviert, neben Kohl, nach dem es ständig roch. Viele Kinder würden als Erwachsene später starken Brechreiz beim Geruch von Kraut verspüren und sich fragen warum.
Und dann würden sie sich in der Nacht an das Waisenhaus erinnern, in dem sich jedoch nur zwei Kinder aufhielten, die wirklich ohne Erziehungsberechtigte in der Welt standen, der Rest der zweihundert Insassen stammte von Eltern ab, denen das Sorgerecht wegen Alkoholismus oder Republikflucht entzogen worden war.
Selten kam es vor, dass Pflegeeltern eines zu sich nahmen. Wer will schon fremde Kinder, die noch nicht einmal exotisch aussehen, sondern einfach nur verwahrlost, mit laufenden Nasen und schmutzigen Ohren, so etwas will doch keiner um sich haben.
Totos Bett stand allein, quer an einer Wand stand es, neben dem Eingang. Die anderen Kinder schliefen in Reihen von je fünf Betten, längs im Raum. Toto wusste nicht, warum ausgerechnet er alleine schlief, er war in einem Alter, da man über solche Dinge noch nicht nachdenkt. Es war ihm vertraut, dass die anderen abends miteinander redeten, sie flüsterten und lachten, sie tuschelten und ärgerten sich, sie bildeten ein Myzel, zu dem Toto nicht gehörte, er war der Pilz oberhalb des Bodens, er genoss die Geräusche, die ihn schläfrig machten, und wunderte sich nicht über die hohen Decken, die eisernen Betten, die Atmosphäre, die an ein Gefängnis erinnern würde, wäre er schon in einem gewesen. Das hier war sein Zuhause, ein anderes kannte er nicht. Bald würde es ruhig sein, und manchmal kam ein Gespenst durch das Fenster. Es warf ein helles Licht, huschte an der Wand und verschwand wieder. Toto hatte keine Angst vor den Gespenstern, er fürchtete nur den Morgen.
Die Kinder wurden um sechs geweckt. Wie kleine, schlecht programmierte Roboter fielen sie aus ihren Betten, über ihre Füße, sie hatten ihre Kissenzipfel in den Mündern. Toto hatte kein Tier gehabt, das man ihm hätte nehmen können, seine Mutter hatte ihn eines Abends angezogen, ihm einen kleinen Koffer gepackt und ihn im Heim abgegeben. Seitdem war er allein, ohne zu wissen warum, aber er vermutete, dass es mit dem Duschen zu tun hatte.
Das erfolgte im Anschluss an das Taumeln über den zugigen Flur.
Die Kinder stellten sich in Reihe auf, die Jüngsten im ersten Stock; die Größeren in den darüberliegenden Etagen existierten im Universum der Kleinen nur, weil sie von ihnen in die Toiletten gesteckt, ohne Unterhosen in den Hof gehängt wurden, aber nicht am Morgen, am Morgen waren sie unschuldig, vereint in ihrer Angst vor dem Wasser, vor der Nacktheit und den Blicken der Erzieher.
Die Duschräume auf den drei Etagen fassten jeweils zehn Kinder, und natürlich war das Wasser kalt, denn kaltes Wasser dient der Ertüchtigung des Körpers. Die Genossin Haupterzieherin der Kleinen hieß Frau Hagen und war bereits am frühen Morgen in rechter Erziehungslaune. Da war nichts zu hören auf den Gängen, außer ihrer starken Stimme.
Toto saß auf seinem Bett, ein Augenblick, der sich in seinem Leben wiederholen sollte, dieses ratlose Sitzen auf Betten, und er beobachtete das Zimmer. Frau Hagen hatte ihm irgendwann gesagt: Du wartest, bis ich dich hole. Toto war nicht der Typ, der klare Ansagen anzweifelte, er saß, wartete auf Frau Hagen, die ihn vom Bett reißen würde, immer aus Gedanken. Ihre Hand ekelte sich davor, ihn zu berühren, das war sehr deutlich, vermutlich hatte sie schlechte Erinnerungen an das Berühren kleiner Jungen. Toto hatte also seine Einzeldusche, jeden Morgen, er drehte das Wasser auf, stellte sich in sicherer Entfernung dazu, und freute sich über den ersten Betrug des Tages. Draußen schrie nach einigen Minuten Frau Hagen.
Sie konnte nicht anders,
Schreien war ihr angeboren.
Frau Hagen war fünfunddreißig. Für die Kinder war sie, wie alle Erzieher und jeder über fünfzehn, eine alte Person. Weder pervers noch sadistisch, war es ihr ein Anliegen, Ordnung zu halten. Wenn man Ordnung hält und Ruhe, dann findet sich der Rest von allein, sagte sie zu ihren Kollegen, die sie bewunderten. Frau Hagen war eine anerkannte Lehrkraft und hatte mehrfach die Auszeichnung Erzieherin des Jahres erhalten. Sie hatte eine positive
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