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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Berg
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befremdlich befunden und wartete nur auf einen Grund zur Untermauerung des kollektiven Unwillens. Der schien nun gefunden. Sie standen gebannt. Es war zu schön, sie hatten recht gehabt. Er war ein schlechter Mensch. Ein Dieb. Haben wir es nicht gewusst, er ist ein Dieb, dachten sie, die Kinder ohne Eigenschaften, sie hatten einen Kreis um Toto gebildet, und vielleicht wagten einige zum ersten Mal, ihn lange anzusehen. Er sah merkwürdig aus. Ja, merkwürdig, das wurde den Kindern klar, und endlich ahnten sie, warum sie nie den Wunsch verspürt hatten, sich näher mit Toto zu befassen. Er war ein Verbrecher. Ein Verbrecher, der aussah wie ein dickes Mädchen. Toto war viel zu groß für sein Alter, damals war er vermutlich sechs, aber da im Heim keine Geburtstage gefeiert wurden, Frau Hagen fürchtete auch hier einen verweichlichenden Personenkult, wusste es keiner so genau. Toto war nie wirklich da. Es schien, als ob in seinem Kopf jemand wohnte, der ihm nette Geschichten erzählte, denn für ein normal entwickeltes Heimkind lächelte er zu oft. Toto prügelte sich nicht, er stand immer allein in Ecken und betrachtete Dinge, die für andere anscheinend unsichtbar waren. Starrte Dinge an und die Kinder, die er nicht Kinder nannte, denn keines hatte das Gefühl, klein zu sein. Sie waren sich schon Welt genug und füllten sich aus, sie litten wie Erwachsene und konnten es nicht ändern. Das war das Kindsein, das keiner so nennt, das ausgelieferte Kindsein, das man in den meisten Situationen nicht beeinflussen kann. Toto war vielleicht sechs, und er machte sich Gedanken.
    Sie mochten ihn nicht so besonders, die anderen, das würde seine Gründe haben, die er vielleicht später einmal herausfinden konnte. Toto war keiner, der sich aufdrängte, niemand, der Situationen verändern wollte. Er war kein Kämpfer und kein Mensch, der ein Interesse daran hatte, sich selber zu erforschen. Toto untersuchte, in welchen Momenten ihm wohl war und welche es zu vermeiden galt; mehr, so dachte er, braucht es doch nicht, um elegant durch dieses Leben zu kommen, dessen Länge er sich nicht vorstellen konnte.
    Unmerklich vergrößerte sich der Abstand der Kinder zu Toto, sie mussten wegsehen, als hätten sie etwas Unerfreuliches erblickt, etwas, wozu sie den Begriff nicht kannten. Toto stand still, er sah die anderen zurückweichen, sich distanzieren, er begriff, ohne zu verstehen, dass er in dieser Sekunde offiziell zu einem Außenseiter gemacht wurde.
    Der Urin lief ihm fast freundlich die Beine hinab, und der Boden war so hart und trocken, dass sich eine kleine Pfütze um seine Füße bildete.

Und weiter.
    Es war kurz nach neun. Die meisten Bewohner der kleinen Stadt, die um das Heim gebaut worden war, arbeiteten schon. Sie taten, was nach der kollektiven Verabredung notwendig war, um nicht aus der Gesellschaft verstoßen zu werden. In den Fabriken begannen Arbeiter in blauer Arbeitskleidung Teile für irgendetwas herzustellen. In den Büros saßen Beamte an Tischen und tranken, die Uhr nicht aus dem Auge lassend, schlechten Kaffee. In den Läden standen die Verkäuferinnen, und frei jedes Servicegedankens, ordneten sie missmutig Nichts in die Regale. Die Wohnungen standen leer und zugig, nur wenige Asoziale hielten sich daheim auf, selbst für die niederste Kreatur hatte sich in dem kleinen Staat eine Verwendung gefunden. Der Ton in Fabriken, Büros, Arztpraxen und Läden war vorwiegend unfreundlich, den Menschen war unwohl, ihre strahlende Zukunft wollte sich nicht einstellen, und es gab keinen Grund, freundlich zu sein, außer dass es das Leben angenehmer gemacht hätte, aber das wusste ja keiner. Nachdem die Werktätigen exakt acht Stunden mit ihrer Tätigkeit verbracht hatten, würden sie auf dem Heimweg nichts mehr einkaufen, was denn auch, und wo denn auch, da alle Geschäfte bereits geschlossen waren. Sie würden in ihre nicht besonders attraktiven Wohnungen verschwinden. Schön wohnten nur hervorragende Parteimitglieder, da gab es schon manchmal ein Haus am See, das irgendwann einem Juden gehört hatte und nun, nach dem Verschwinden der Nazis, von einem Kadermitglied oder einem Genossen Künstler bewohnt wurde. Die Werktätigen hatten ihre Kinder aus den Betreuungseinrichtungen geholt. Es gab Kohlgerichte, es wurden Nachrichten gesehen, die so interessant waren wie in jeder Diktatur, dann wurde noch ein wenig Westfernsehen geschaut oder gelesen. Getrunken wurde in jedem Fall, weggegangen kaum, da gab es nichts zum Weggehen;

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