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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Berg
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Notunterkünfte, Volkssolidarität, das interessiert mich nicht. Willst du mitkommen? Toto hörte die Frage, aber die endete an ihrem Trommelfell, denn ihr Gehirn war gerade mit einem Nachbarskind beschäftigt, das vor der Bäckerei saß. Ein pubertierender Junge, als hätte er geweint.
    Toto hörte Kasimirs Frage, parkte sie vor dem Gehirn und beugte sich zu dem Jungen. Was ist passiert? Sind alle gesund? Steht eure Wohnung noch? Der Junge blickte Toto nicht an, zum Boden sagte er, das geht dich nichts an, du Schwuchtel, verzieh dich, verzieh dich am besten für immer.
    Schon gut, ist ja schon gut, sagte Toto. Nichts, um es persönlich zu nehmen.
    Die Sonne war aufgegangen, verdunkelt von Rauch und Helikoptern. So fühlt es sich also an, einer der Betroffenen zu sein, die im Anschluss an ein Ereignis in die Kameras sprechen. Das Gehirn des Menschen ist zu langsam, um im Moment des Ereignisses zu verstehen, was da passiert. Tröstlich. Da ist zu handeln, zu überleben, und dann räumt man den Schaden wieder auf. Kakerlaken und Menschen. Kasimir folgte Toto langsam. Er schien gelangweilt. Es war keiner von Totos Bekannten zu sehen, in ihrem Haus waren die meisten Mieter dabei, Pappe vor die Fenster zu nageln. Es gab nichts mehr zu tun.

Und weiter.
    Das war vor unendlicher Zeit passiert, das Wasser, die Pappe am Fenster, die Hunde, die surften, und stattgefunden hatte das wohl auf einem anderen Planeten.
    Vor dem Fenster beleuchtete eine zu gelbe Sonne zu helle französische Häuser.
    War sie mit Kasimir zusammen, kannte Toto sich nicht mehr. Die Angst ließ sie falsche Worte sagen, im falschen Moment, die Angst machte sie verspannt und ließ sie leise auftreten.
    Wenn sie alleine war, erinnerte sich Toto ausdrücklich an den Anfang ihres Lebens zu zweit, um es nicht sterben zu lassen, dieses großartige Gefühl überbordender Verwirrung, nun, da ein anderer, noch nicht benennbarer Zustand ihr Leben ausmachte.
    Meist lag sie dazu in der gusseisernen Badewanne, die mit Tierfüßen auf einem gekachelten alten Boden stand, der vermutlich ein neuer Boden war und immens teuer, so wie die leuchtende Toilette neben der Wanne, diese Skulptur, die um Ausscheidungen zu betteln schien, und ging durch ihre Erinnerung spazieren.
    Die Decke wies Wasserflecken auf, die entgegen dem üblichen Pariser Kosmetikfimmel nicht mit einem Plakat des Moulin Rouge beklebt waren. Die Zahlen 666 waren deutlich.
    Am stärksten erinnerte Toto sich an den Geruch der ersten Nacht, das künstliche Kiefernaroma, die Laternen und diese Welt, die es nicht mehr zu geben schien.
    An den Kuss. An die Stadt. An den Weg aus der Stadt.
    An die Fahrt nach Paris erinnerte sie sich, an das übermüdete Schweigen im Käfig, an die Berührungen ihrer Körper zufällig, die Hände, die sich gestreift hatten, die Schultern, die sich berührten, und der Gedanke an Kasimirs Atem in ihrem Körper. Da war kein Außen gewesen, keine Welt, die es zu betrachten gab. Es war der für Toto völlig neue Zustand, nicht bei sich zu sein.
    Im Auto, damals, lief ihr Leben vor ihr ab, als stünde das Ende bevor.
    Vielleicht war es das Alter, vielleicht die anstehende Veränderung, dass sie in den Stunden auf der Autobahn Bilder sah, über die sie nicht zu verfügen geglaubt hatte. Das Kinderheim tauchte auf, der Rußgeruch, die ständige Anwesenheit von Kälte. Toto sah ein dickes seltsames Kind, das immer am Rande schlief, am Rande stand, dessen Hilfe von keinem gewollt war und das mit Pflanzen redete. Rührung, die ihr peinlich war. Sie wollte dieses Kind beschützen, wenn es doch schon kein anderer getan hatte.
    Ihr fielen all die Bezeichnungen ein, die andere für sie gefunden hatten. Mannweib war eine gewesen. Sie hatte sie nie verstanden. Eine Frau, die sich wie ein Mann verhält oder aussieht, oder andersherum, da hatte sich viel verändert, Frauen konnten unterdessen fast überall auf der Welt alles. Sie wollten nur nicht. Sie wollten sozial sein, gemocht werden, in der Politik arbeiten, sie wollten bewahren, und Männer wollten einreißen, um Neues zu bauen. Das dürfte sich mit den weiblichen Hormonen, die jetzt der industriellen Nahrung zugefügt wurden, erledigen.
    Das Straßenbild beherrschten Erwachsene mit guten Gebissen und gepflegten Anzügen. Fast alle waren heute im Dienstleistungsbereich tätig, sie waren ähnlich gekleidet, lebten in uniform wirkenden Wohnungen und hatten pro Kopf durchschnittlich drei Krankheitstage zu verzeichnen. Die Masse der grauen Mäuse

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