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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Berg
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Die Übelkeit war wiedergekehrt, begleitet von Haarausfall und einer gelblichen Aura der Haut. Toto war nicht entspannt, und sie war sicher, das war es, was alle unter Liebe verstehen. Dieses Große Erschaudern, die ständige Virilität der Nerven, die Bewunderung und das Gefühl von absoluter Anomalität. Das Große Missverständnis Liebe.
    Die ersten Obdachlosen kamen gegen eins, in der Nacht, wenn die Restaurants schlossen und die Chinesen in den Hotels verschwanden. Toto brach auf zu ihrer täglichen guten Tat. Heißer Tee und Brote für die Obdachlosen, die um den Block verteilt lagen. Fünf Biologielehrer mit auffallend identischen Geschichten. Alle waren aus ihren Wohnungen geworfen worden, wollten nicht in die hässlichen Vororte, hatten gehofft, etwas anderes in der Stadt zu finden, und es war ihnen zur Obsession geworden. Das Wohnen in der Stadt. Ich will keine Veränderung, ich will mir nicht eingestehen, dass ich Mitte vierzig bin und es nicht geschafft habe, ich will nicht in einem Betonbunker leben, aus dem ich in eine Metro gehe, die mich in einem anderen Neubaugebiet absetzt, wo sich mein Büro aufhält. Das Verlassen der Stadt wäre die Manifestation meines Scheiterns. Sagte einer der Biologielehrer, der nach dem Verlust seiner Zähne zur Untermiete gewohnt hatte. Ich habe dann zur Untermiete gewohnt, in einem möblierten Zimmer, das wollte meine Frau nicht, sie zog alleine in die Vororte und sagte, ich könne nachkommen, wenn ich mich wieder beruhigt hätte. In die Vororte ziehen bedeutet, sich im Untergang einzurichten. Als Mann und Franzose. Toto nickte und unterließ es, darauf aufmerksam zu machen, dass sie die Situation des Biologielehrers als Fotomotiv für asiatische Touristen nicht besser fand. Sie verteilte Tee, Brote, so wie andere die Blumen gießen, bevor sie zu Bett gehen. Es stimmte nicht, dass Toto nichts gewollt hatte, gesungen hatte sie gerne, aber viel lieber hatte sie immer die Welt, in der kurzen Zeit ihres Aufenthaltes auf ihr, zu einem freundlichen Ort gemacht. Es war ihr nur wenig gelungen. Sich langsam bewegend, um die Übelkeit nicht zu wecken, kehrte Toto in die Wohnung zurück, in ständiger Angst, die Tür verschlossen zu finden.
    Vor den Fenstern von Kasimirs Wohnung im Pariser Stadtteil Marais fand der Untergang Europas, von dem schon so lange geredet und geschrieben wurde, Niederschlag im Straßenbild.
    Viele Bettler aus dem Osten Europas, Zigeuner und obdachlose Franzosen, vormals Biologielehrer, an denen Touristen aus Asien, Indien und den arabischen Ländern vorbeiliefen. Sie fotografierten gern das Elend.
    Früher hatten Europäer Slums in Asien besichtigt und von lachenden Kinderaugen berichtet, von Schlichtheit geschwärmt und den intakten Familien, die arm waren, aber so reich im Herzen. All diesen Großen Quatsch konnten sie jetzt überprüfen. Ob man da wirklich mit einem Lachen in den Augen am Straßenrand liegt, das konnten sie sich jetzt richtig gut überlegen, die ehemaligen Dritte-Welt-Touristen.
    Europa war ein Museum geworden, lebendige Einwohner nicht vorgesehen. Vermutlich würden Touristen in einigen hundert Jahren Notre-Dame besichtigen, so wie zu anderen Zeiten Mayatempel, Steine in einer Wüstenlandschaft, in einem Dschungel, was auch immer das Klima so vorhatte. Es war nicht dramatisch, dieses Ende einer Hochkultur, keine Große Sache, es war nur langweilig.
    Sie trauten sich nichts mehr, die Leute. Als ob das Tragen blauer Kleidung sie vor der Entlassung, der Verelendung schützen könnte. Als ob die Darstellung intakter Kleinfamilien ihnen Schutz gewähren wollte. Als ob es heute noch sinnvoll wäre, den Leib durch Sport gesund zu halten. Das war doch keinem gewünscht, ein hundertjähriges Leben, in dem man so viel Veränderung und Verfall beiwohnen durfte, um dann am Ende auf einer Straße in Paris zu liegen.
    Nachts war die Innenstadt leer und ruhig, und auch jene, die ihr Bett über Lüftungsschächten aufgetan hatten, waren am Morgen oft tot, besonders im Winter. Dann kamen Leichenräumtrupps aus den Vororten, junge Marokkaner, und entfernten die toten Franzosen. Vor den Läden der Luxuslabels, die neben dem Tourismus die Haupteinnahmequelle des Landes waren, starke Gitter. Die Banden aus den Slums kamen selten zum Randalieren, es war langweilig geworden, und mit den chinesischen, russischen und indischen Millionären, die anstelle der ungepflegt überpuderten Franzosen in der Innenstadt ihre Drittwohnung hatten, mochte sich keiner

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