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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Berg
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havarierte Bohrinsel, eine gesunkene Fähre, eine Explosion im Bergbau, ein Erdbeben, eine Hitze- oder Kältewelle, ein Amoklauf, irgendwo auf der Welt, und in der Nachbarschaft eine Entmietung, eine obdachlose Kleinfamilie, ein Krebsleiden, das wohl nicht gut behandelt wird, wer soll da nachkommen, so viel kann doch keiner wegtrauern.
    Toto erholte sich am Boden, sie blickte Füße an. Sie fühlte sich schwach und durchlässig. Der Waggon wies Materialermüdungen auf. Ohne Materialermüdung läuft ja gar nichts mehr. Der Zug, ein wenig ermüdet, fuhr erstklassig, er lag fest auf den Schienen. Die Menschen hatten das Internet, ihr Ersatz für den Alkohol des letzten Jahrhunderts. Im Zug standen sie dicht an dicht mit ihren Smartphones und Tabletcomputern, jeder konnte hier endlich wer sein. Ein Experte, unbedingt konnte jeder ein Experte sein, und sie konnten das Gefühl haben, Teil der Demokratie zu werden mit Petitionen und Flashmobs und Blogs. Jedem seine Meinung! war das neue Spiel fürs Volk. Eine Gruppe junger Männer stürmte durch das Abteil, sie traten gegen Sitzbänke, fegten Weidenkörbchen aus den Ablagen, nahmen Reisenden ihre Tabletcomputer weg, grölten und verbreiteten Angst. Sehr schnell und sehr effizient wurde der jungen gutgekleideten oberen Mittelschicht ihre Verwundbarkeit klargemacht, die Fragilität des Miteinanders der Kulturen, der eine oder andere mochte die Abschaffung der Armee bedauern, die den jungen Männern ein wenig Demut beigebracht hätte, so hatten sie nur sich selbst und ihre Triebe, die nirgendwo mehr ein Ventil fanden, außer in der Zerstörung. Ein seltsames Bild, wie sie, zitternd und bleich, versuchte unsichtbar zu werden, die weiße Mittelschicht aus den Vororten, in sauberer unbelasteter Kleidung, starr vor Angst, Angst vor einer Gruppe von zehn aggressiven jungen Männern. Die laut grölend an der nächsten Haltestelle ausstiegen, die armen jungen Männer, die in einer Zeit lebten, in der ihre Körper und ihre Hormone so wenig gefragt waren, die in ihre sterilen Vororte zurückkehren würden, erstickend an ihrer Dummheit, die sie in die Unterschicht fegte, und nicht einmal vergewaltigen konnten sie noch in Ruhe, nun, da die Kastration drohte, nun, da die Politikerinnen die Gesetze schrieben.
    Toto befand sich durch ihren Gesundheitszustand immer kurz vor den Tränen. Alles rührte sie, als hätte sie das Stadium des Aufbäumens und der Wut übersprungen und sei direkt angelangt bei der Trauer um die Welt. Das hilft doch keinem. So eine Trauer, was hilft das denn. Was war das für eine Idee gewesen, am Wochenende auf den Berg zu fahren, zu den Besichtigungsfarmen, zu diesen Kühen, die sentimentale Städter adoptieren und melken konnten, zu den Streichelhühnern, zu den Ökohasen, die man bei Gefallen liebkosen und schlachten konnte. Toto war nicht an Nahrung interessiert, vielleicht sollte sie die Natur besichtigen. Eine sehr dumme Idee.

Und weiter.
    Zusammen mit Hunderten schob sich Toto auf einen Hügel, der einen absurd künstlichen Eindruck machte. Die Wege waren mit glänzenden Steinen gepflastert, kleine Kioske mit Holzbänken produzierten ein Walderlebnis aus Kindheitserinnerungen, und es war nicht an Fichtennadelaroma gespart worden. Da standen keine Fichten, sondern Kiefern, Buchen, Lärchen. Das Plastik zu grün. Die Menge geriet in Verzückung. Kinder wurden belehrt. Sieh nur, ein Rotkehlchen. Der gefiederte Freund spulte seine Tonkassette ab. Die Kinder waren gelangweilt. Sie wollten wieder in die Schule und mit Waffen spielen.
    Auf der Kuppe vermeinte Toto Zwerge um ein Schneewittchen springen zu sehen, es waren jedoch nur kleine Geißen, die sich um eine sehr attraktive Tierpflegerin scharten.
    Toto, in ihrer schwarzen Kleidung und mit dem dunklen Haar, nahm sich in der buntgekleideten Menge seltsam aus. Dieses Amrandestehen war auch nichts, wofür man einen Preis bekam; in einer Zeit, da sich das Individuum in der Masse auflöste, hielten doch alle Schilder über ihren Köpfen, auf denen ihre Einzigartigkeit geschrieben stand: Behandelt mich mit Respekt, Massen, ich habe es verdient, stand da, ich bin Narkoleptiker, ich wurde nie in die Sportmannschaften gewählt, ich habe ein Aufmerksamkeitsdefizit, ich bin Legastheniker, ich habe ein Tourette-Syndrom, ich bin einzigartig, ich bin ein Opfer, wollt ihr nicht alle innehalten und euch zu mir beugen, wollt ihr mir nicht mit Freundlichkeit entgegentreten, ich bin verdammt etwas Besonderes. Stand auf den

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