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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Berg
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hoffte, es werde ihm gelingen, das immer beizubehalten. Wenn er traurig war, versuchte er den Zustand durch Handlungen zu ändern. Dann betrachtete er Bäume oder den Himmel, versuchte andere Kinder zu trösten, die das aber leider nur selten wollten. Toto dachte nicht an sich selbst, er hatte nur den Grundsatz, anderen nie zur Last zu fallen, sie nicht zu belästigen. Ansonsten nahm er sich vor, wie eine Pflanze zu sein, welche die Sonne empfängt und den Regen, welche erfreulich ist und wartet, dass ihre Zeit auf der Erde vorübergeht und sie in einen anderen Zustand eintreten kann.
    Toto war in den ersten Stock des Kinderheimes umgezogen. Der Krüppel, der Hosenpisser war dort bereits mit gebührender Ablehnung erwartet worden. Doch irgendwann, nach ein paar Wochen, hatten sich die Kinder beruhigt, und ein neues Opfer war gefunden.
    Toto überragte die gleichaltrigen Jungen und Mädchen, und hatte sein Kopf bis vor kurzem wie der Kürbis auf einer Vogelscheuche gewirkt, war nun alles zu einem Ganzen geworden. Das war freundlich von der Natur, doch auch nicht hilfreich, um leichterhand Bekanntschaften zu schließen. Etwas stimmte nicht mit dem Fleischberg, seine Stimme war zu hoch, seine Bewegungen zu weich, sein Lächeln zu sanft für einen Jungen. Totos Erscheinung war so ungewöhnlich, dass Spott und Ablehnung der anderen sich fast in Grenzen hielten. Die Kinder ahnten, dass er für die Evolution nicht zu gebrauchen war und eigentlich hätte getötet werden müssen, aber es wagte keiner so recht, Hand anzulegen, zu überragend war sein weißer Leib.
    Der Geruch der schlafenden Kinder in seinem Saal war noch angenehm, warm und matt lag der Saal. Der genaue Zeitpunkt, wann aus Kindern Idioten werden, war unzureichend erforscht. Man munkelte von der Einschulung, dem Gruppenzwang, von Hammer und Amboss, dem Ausgrenzen von allem, was anders ist, womöglich war und ist die Pubertät das Ende der erfreulichen Erscheinung kleiner Menschen.
    In der Petrischale Kinderheim, ohne den Einfluss reaktionärer, fortschrittlicher oder strunzblöder Eltern, verformten sich die Kinder in unterschiedlicher Geschwindigkeit, doch auf eins war Verlass: Sie veränderten sich nicht zu ihrem Vorteil. Wenn sie an ihrem achten Geburtstag in die mittlere Gruppe des Kinderheims Michael Niederkirchner wechselten, war es meist vorbei mit ihrer Niedlichkeit, mit dem Staunen und der Unbefangenheit. Die Welt hatte sie schon verformt, gebrochen, die Erzieher hatten sie zu Heuchlern gemacht. Sie hatten gründlich zu lügen gelernt, und auch der winzige Originalton war bei den meisten verschwunden. Der kleine Mensch hatte gelernt, in Erwartungen anderer zu funktionieren.
    Toto hatte ein ruhiges Wesen. Er kannte die Menschen nicht gut genug, um Angst vor ihnen zu haben, er bestaunte sie, sie dauerten ihn, denn auf die Idee, dass er so schwach war wie sie, kam er nicht. Es war so eingerichtet, dass Toto sich morgens vor allen anderen reinigte, nach seinem Gartenbesuch, und dann saß er und beobachtete sie beim Erwachen.
    Da, jetzt, wie sich ihre Hände in die Luft strecken, als hoffen sie auf eine Umarmung, als wollen sie, von wem nur, aus dem Bett gehoben werden: Toto hätte derjenige sein können, der sie umarmte, am Morgen, doch da wollte keiner Zärtlichkeit, und erst recht nicht von ihm, der sie ansah mit seinem großen Kopf, die Augen halb geschlossen. Und jetzt flogen die Fenster auf, da brannte das Neonlicht, und Frau Hagen rief zum Morgenappell. Austreten, Augen geradeaus, Hände an die Ohren, besondere Vorkommnisse in der Nacht. Die kleine Armee marschierte wieder. Schweigend und wie noch im schlechten Traum standen sie in einer Reihe, um sich abzuspritzen, denn das war die Regel.
    Müde saßen die Kinder, es waren zurzeit einhundertundachtzig, im Speisesaal vor Mischbrot mit Marmelade und Malzkaffee. Ohne Milch zumeist, so früh am Morgen gab es noch keine Milchlieferungen, das wurde später in der Schule nachgeholt, dieses unselige Milchgetrinke, durch zwei Löcher im Aluminiumdeckel, der sauer roch. Und jeder Tag begann ohne die Aussicht auf ein Wunder.

Und weiter.
    In die Schule gingen die Heimkinder gemeinsam, nicht Hand in Hand wie die Kleinen in den Kindergarten, sondern lässig, sie schauten in die Luft und waren rührend verspannt, bei ihrem Versuch, erwachsen zu wirken und so weit wie möglich hinter der Gruppe zurückzubleiben, denn keiner wollte dazugehören. Zu den Heimkindern. Zu den Waisenkindern, denen mit den billigen

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