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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Berg
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des Elends, das sie so hart hatte werden lassen, so unbeherrscht und zornig, diese Leute. Und Toto glaubte, dass der Übergriff des Lehrers auch in diesem Fall nichts mit ihm zu tun hatte. Es tut mir leid, dass ich Sie reize. Vielleicht erinnere ich Sie auch an jemanden, den Sie nicht mögen, sagte Toto, und er meinte es ernst. Er konnte sich nicht kindgerecht ausdrücken, die vielen Selbstgespräche über den Büchern hatten diese Gabe in ihm verdorben; diesen niedlichen Kinderslang, der bei Erwachsenen meist einen Schutzreflex auslöst, den beherrschte er nicht. Ich setze mich wieder hin, wenn es Ihnen recht ist. Toto ging an seinen Platz, der Lehrer stand mit offenem Mund, und sein Hass wurde so übermächtig, dass er den Klassenraum verlassen musste.
    Der Unterricht war zu einem Ende gelangt, über das die anderen Kinder noch ein paar Tage würden lachen können, der Erdkundelehrer onanierte in der Lehrertoilette, vor dem Haus gruppierten sich die Älteren, die leider keine Heimkinder waren, um Toto gebührend empfangen zu können, kein guter Tag für nichts, und er wurde auch nicht besser, als Toto das Schulgebäude verließ, sich auf dem Boden wiederfand, Tritte in den Leib und ins Gesicht, und das Schlimmste ist doch nicht der Schmerz, den spürt man doch Sekunden später schon nicht mehr, den Schmerz, und auch Angst hat man dann nicht länger, was soll schon noch kommen, nach so einem Tag, dessen Tiefpunkt die Klarheit war, dass da kein Ort existiert, wo er Sicherheit fand. Toto atmete, zog sich nach innen, wo er für besonders schwierige Momente das Bild von Kasimir besaß, der sich im Bett an ihn gedrückt hatte.

Kasimir war nicht
    auf seltsame Art mit Toto verbunden. Er hörte ihn weder rufen, noch dachte er besonders intensiv an ihn. Kasimir war jetzt im Westen und damit beschäftigt, ein gutes Kind darzustellen, sich zu verstellen, bis er den Irrsinn der Kindheit überlebt haben würde. Er achtete darauf, seinen Rücken gerade zu halten, er untersuchte jeden Wirbel auf seinen exzellenten Sitz und vor ihm auf dem Tisch, auf der weißen Decke mit Lochstickerei, die Wurstplatte, Brot, Butter, Gürkchen und Cola. Es war Freitag, da gab es Cola. Ein Feiertagsgetränk, das Kasimir in kleinen Schlucken nahm, aber er konnte nicht sagen, ob die Cola wirklich einen hinreißenden Geschmack hatte oder ob es nur die Verknappung des Getränkes war, was es so interessant machte.
    Kasimir sah nicht auf von seinem Teller. Er ertrug den Anblick seiner Adoptiveltern nicht. Kasimirs neue Mutter war Mitte vierzig. Oder einfach alt. Die Frau hatte wohl irgendwann etwas gearbeitet, was für die Welt und sie ohne Bedeutung gewesen war, diese Tätigkeit jedoch nach der Eheschließung, nach der Adoption und der gelungenen Flucht in den Westen, an die sich Kasimir nicht mehr erinnerte, aufgegeben. Ich verachte Frauen, die arbeiten gehen und ihr Kind in einer Versorgungseinrichtung abladen. Denen soll man das Sorgerecht entziehen. Sagte Kasimirs neue Mutter. Dabei stemmte sie die Hände in die Hüften. Sie hatte alles richtig gemacht, das war unschwer zu erkennen. Das Eigenheim in einer Vorortsiedlung war akkurat, die Häuser waren auf Kante gefaltet und die Gärten einsehbar. Wir haben nichts zu verbergen, sagte die Mutter und stemmte die Hände in die Hüften. Sie deckte auch den Gartentisch mit weißem Leinen. Sie war zutiefst frustriert.
    Der Hauptgrund für die Republikflucht seiner Eltern war nicht nur die Unzufriedenheit mit dem sozialistischen System, das eben nicht sozialistisch, sondern einzig ein Exempel für die Lenkbarkeit der Herde war. In den Kapitalismus getrieben hatte sie vielmehr einzig der große Wunsch, ihre bürgerlichen Ansprüche befriedigen zu können. Das war im Ostteil nicht möglich gewesen, all die Produkte zur Reinigung, die Kiefernholzdecke, der Springbrunnen im Zimmer, das hatte es dort nie gegeben.
    Kasimir verkrümmte sich innerlich beim Essen, vor Sorge, etwas zu beschmutzen. Mit äußerer Reinheit ließ sich auch ein sauberes Inneres herstellen, ein Krümel bewirkte Disharmonie. Schmutz, schlechte Menschen, kaputte Zähne mussten nur entfernt werden, dann konnte das System reibungslos funktionieren und der Mensch seiner Aufgabe nachgehen, die Welt sauber zu halten. Kasimirs Mutter knirschte nachts mit den Zähnen, bis deren Schneideflächen gelb verfärbt waren.
    Gereinigt saß Kasimirs Vater am Tisch. Seine Hose hatte er sehr hoch am Bauch befestigt. Er war die zweite Hand in einer Fabrik, die

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