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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Berg
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Unrechtmäßigkeit seines Gefühls, was es noch verstärkte. Er war zweiundvierzig und durch eine intensive Umschulung vom Stahl- und Walzwerker zum Lehrer geworden. Er war ein guter Genosse. Er war Mitarbeiter des Ministeriums des Inneren. Na, Kollegen, wie schießen die Preußen, sagte er jeden Morgen, wenn er das Lehrerzimmer betrat. Die Kollegen gähnten. Alle waren bei der Staatssicherheit und ahnten, dass alle bei der Staatssicherheit waren. Die Frauen unterrichteten Russisch und Deutsch. Sie hatten blondierte Haare mit Dauerwelle. Jede Frau, die auf sich hielt, trug Dauerwelle oder eine Schüttelfrisur. Der sozialistische Name für einen Bob. Die Männer lehrten Naturwissenschaften und Sport. Sie trugen keinen Schnauzbart, denn das war eine dekadente, spießige Entäußerung des Kapitalismus. Niedergeschlagen waren alle; sie spürten, etwas würde nicht funktionieren, hörten einen Misston in der Partitur. Sie waren doch überzeugt gewesen und hatten ihre Pflicht, gute kleine Staatsbürger auszubilden, ernst genommen. Nur der Erdkundelehrer hatte sich nie für Kinder interessiert. Er interessierte sich für die lange Ferienzeit, und er wollte nicht mehr im Stahl- und Walzwerk arbeiten. Er hatte Angst, dass jemand seinen Hass auf einige der Kinder entdecken würde, auf ein Kind, um genau zu sein. Wenn er Toto sah, der zusammengefaltet hinter seinem Pult klemmte, überkam ihn eine fast unbeherrschbare Abneigung, deren Ursprung er sich nicht erklären konnte. Dieses immer wie lächelnd wirkende riesige Gesicht, ein wenig mongoloid, dieser offensichtlich nicht männliche Ausdruck bei einem absurd wuchtigen Körperbau, so etwas gehörte sich doch nicht im Sozialismus, dass einer anders aussah und die Aufmerksamkeit auf sich zog. Die anderen Kinder glichen sich mehr oder weniger. Es waren europäische Kinder aller Schattierungen, blond, meist blauäugig, in unterschiedlichen Abstufungen verwahrlost. Toto hatte schwarzes Haar. Wie eine glänzende Perücke in Topfform geschnitten. Und dieses Grinsen, immer dieses Grinsen, das würde dem Idioten gleich vergehen.
    Der Erdkundelehrer hatte sich neben Toto aufgebaut, der gerade durch Paris lief. Paris, das war noch ein Ort. Irgendwann wollte er dorthin. Vielleicht zum Sterben.
    Meist gelang es Toto, den kompletten Schultag zu verlesen. Es glückte ihm nicht, die Schönheit physikalischer Formeln zu entschlüsseln oder die Eleganz der Mathematik zu fühlen. Vermutlich war er kein Genie, was er außerordentlich bedauerte, denn als Genie hätte er nach dem Studium in Moskau am Ardenne-Institut arbeiten können, um die Welt zu retten.
    Die Stunden zogen sich, die Kinder lagen im matten Halbschlaf, der in den meisten Fällen die bestimmende Lebensform der kommenden sechzig Jahre war. Draußen hatte es zu regnen begonnen, eine uninteressante Randnotiz, die Toto verzeichnete, während er kurz von einem Buch aufblickte, das Zola geschrieben hatte.
    Du wirst mich gleich bemerken, dachte der Lehrer, und in ihm stieg ein großer Hass auf. Dafür hatte er sich doch nicht angestrengt, die Abendschule besucht, dafür saß er nicht bis in die Nacht und korrigierte Arbeiten, dafür war er nicht in diese dämliche Staatssicherheit eingetreten, dass jetzt ein fetter Riese grinsend in seiner Klasse saß und las, und das alles, um ihn zu verhöhnen und um ihm eine Mitteilung zu machen, zu feixen über sein verpfuschtes Leben, über sein verzweifeltes Wichsen in der Nacht. An die Tafel, sofort, schrie der Lehrer, er konnte sich unmöglich länger zurückhalten.
    Toto erhob sich verwirrt und zu langsam für den Erdkundelehrer, dem die Explosion seiner Erregung in den Fuß drang. Er trat Toto in den Hintern. Toto strauchelte, fiel hin, die Information des Geschehenen erreichte sein Gehirn nicht, er stand wieder auf und ging zur Tafel, wo er schweigend kleine rote Fahnen den sozialistischen Ländern zuordnete.
    Die Kinder waren zusammengezuckt, unklar, ob sie lachen durften, doch, sie durften, sicher durften sie lachen, wenn der schwule Mongo einen Arschtritt bekam, sicher durften sie sich freuen! Beim Lachen der anderen, vielleicht hatten die Zuschauer von Gladiatorenkämpfen so hysterisch laut gelacht, verstand Toto, was passiert war, und er betrachtete den Lehrer, der da stand, mit rotem Kopf, mit getrocknetem Speichel in den Mundwinkeln und einer großen Erbärmlichkeit. Es half Toto immer, wenn er sich die Menschen ansah, die ihn zu verletzen suchten, meist wurde er traurig beim Erkennen

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