Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Berg
Vom Netzwerk:
aufgetragen, für jemanden, der keinen kannte außer seiner merkwürdigen Mutter, die jeden Abend einen Selbstmordversuch unternommen hatte, und nie war einer gelungen, und dafür hatte er sie dann irgendwann verachtet, dass ihr das einzige, was sie versuchte, doch nicht gelang und sie einfach an einer Grippe gestorben war. Sie waren komische alte Kinder, die Insassen des Kinderheims Michael Niederkirchner. Altklug, zynisch und traurig, und auf keinen Fall wollten sie klein sein, denn es gab nichts Tristeres auf der Welt.
    Nach Tisch wurde nicht mehr geduscht, nur die Zähne putzten sie sich und hängten ihre Kleidung zurück in den Spind. Die Kleidung wurde einmal in der Woche gewechselt. Dann kamen die Hosen und Hemden in die Wäscherei und waren im Anschluss steif von Wäschestärke, es ist gut für die Entwicklung, dass die Kinder keine persönlichen Sachen haben, hätte Frau Hagen sagen können, in vollkommener Verkennung der menschlichen Natur, die nach Dingen verlangt.
    In mit Bären bedruckten Flanellpyjamas standen die Jüngsten in Reihe zur Nachtinspektion. Frau Hagen prüfte jedes auf Fieber, Krankheiten, Sauberkeit, im Anschluss marschierten sie am Bild des Staatsratsvorsitzenden vorüber, zu Bett, das Licht wurde gelöscht, und hier wäre der Zeitpunkt gewesen, noch einmal durch die Reihen zu gehen, die Kinder zu streicheln oder, auf einem Stuhl sitzend, eine Geschichte vorzulesen. Doch auf derart absurde Gedanken wäre keine der Erzieherinnen gekommen. Manche der Angestellten hier, es waren sechs Frauen, würden im Anschluss an ihre Schicht nach Hause gehen, wo eigene Kinder und Ehepartner auf sie warteten, doch auch dort würden sie nicht in überbordende Zärtlichkeit verfallen. In dem kleinen sozialistischen Land hatte man gemeinhin Probleme mit den Gefühlen und dem Berühren, mit Zärtlichkeit und Anteilnahme, das lag nicht an dessen geographischer Position im Norden Europas, sondern vielmehr an seiner Geschichte, in der für überbordendes Mitgefühl noch nie Preise verliehen wurden. Die Evolution hatte jene überleben lassen, die sich durch Disziplin, Fleiß und einen Hang zur Denunziation hervortaten. Generationen von Eltern hatten ihren Kindern mit Prügeln die eignen Werte vermittelt, die ihnen von ihren Eltern beigebracht worden waren. Pflichterfüllung und Funktionalität zahlten sich aus in diesem Land, und der flächendeckende Alkoholismus tat sein übriges, die Bevölkerung verrohen zu lassen.
    Toto lag in seinem Bett und wartete auf das nächtliche Erscheinen der Wandgeister, als er einen Schatten vor seinem Bett sah. Ein für Wandgeister ungewöhnlicher Aufenthaltsort, ebenso merkwürdig, dass der Geist ihn berührte und sich neben ihn ins Bett drängte. Nun rück schon und starr mich nicht so an, flüsterte Kasimir. Es war das erste, bewusste Mal in Totos Leben, dass jemand mit ihm das Bett teilen wollte. Er war noch zu sehr Kind, um sich mit aufkommender Panik zu fragen, ob er sauber genug war und sein Leib in akzeptabler Form, nur eine kleine Unsicherheit, etwas nicht mehr Kindliches bremste den Schwung, mit dem er zur Seite rückte, doch das war schnell vergessen, das Unwohlsein, unter der Decke war es vergessen, als sie sich nicht mehr sahen, die beiden Jungen, der eine Junge und dieses Kind, dessen Mutter entschieden hatte, dass es ein Junge sei. Von seiner Mutter erzählte Kasimir, davon, dass er sich an seine nicht erinnern konnte, berichtete Toto. Sie redeten leise, vielleicht die ganze Nacht, und waren irgendwann eingeschlafen, aneinander.
    Das war der schlechteste Schlaf, an den Toto sich erinnern konnte, und der glücklichste zugleich, halbwach, sich nicht bewegen, nur nichts zerstören, den Freund nicht verjagen, die Wärme nicht, und sie sollte nie enden, diese Nacht, und dann wurde es doch heller, zu hell, mit einer Fanfare.
    Die Bettdecke wurde weggerissen. Frau Hagens Stimme überschlug sich, doch Toto hörte sie nicht. Er hatte einen Ort gefunden, wo er nichts mehr hörte, wenn er nicht wollte. Der lag hinter dem Brustbein, dort war es warm, dort hatte Kasimirs Hand gelegen. Frau Hagen riss Toto aus dem Bett. Toto verstand nichts von ihren Schreien, er wollte die Worte nicht hören, den Schmutz ihrer Gedanken, er ließ sich am Arm in die Höhe reißen, in die Reihe der Kinder, die vor dem Waschraum warteten. Toto wunderte sich über nichts mehr, schon gar nicht, dass er heute mit den anderen in den Duschraum durfte. Er zog seinen Pyjama aus und stellte sich unter die

Weitere Kostenlose Bücher