Vielleicht Esther
Janek, das ist das einzige Foto.
Ich verstand nicht mehr, wie ich mir jemals hatte einbilden können, ich sei verschont geblieben. Irgendwie wusste ich, dass meine polnischen Verwandten alle umgekommen waren, die Geschwister von Ozjel, seine Mutter, Zygmunt, Hela, ihre Familie, wie sonst, aber ich hatte nie an sie gedacht.
Was für ein Glück?, fragte ich Janek.
Ich habe dieses Foto gerade auf Ebay gekauft, sagte er, in letzter Zeit ist Ebay eine gute Quelle, Hunderte neuer Fotos, alte Leute verkaufen sie, bevor sie abtreten, oder ihre Kinder, dieses Foto habe ich von einem Angehörigen der Wehrmacht gekauft, für siebzig Euro, ein guter Preis.
Die Probe
Als ich am Abend zu einer Verabredung mit einem polnischen Theaterregisseur ging, der für sein Stück über eine Schulklasse zur Kriegszeit gerade die Goldene Nike gewonnen hatte, den größten Literaturpreis Polens, traf ich auf der Straße meinen Nachbarn aus Berlin, was ein schöner Zufall gewesen wäre, hätte ich nicht gerade ein Theaterstück gelesen, das sich auf ein Buch mit dem Titel Nachbarn bezieht und in dem es um Klassenkameraden geht, Polen und Juden, die zusammen aufwuchsen, zusammen
lebten, einander mochten und sich dann gegeneinander wendeten und einander töteten, wer wen, just guess, und gerade dachte ich an die Nachbarn in einer kleinen polnischen Stadt mit dem für mich unaussprechlichen Namen Jedwabne und warum man seine Nachbarn tötet, im Delirium, in der Finsternis, im Affekt oder auch gerne, da stand er plötzlich vor mir, hier in Warschau, mein Nachbar, der in Berlin schräg gegenüber wohnt und mit dem ich gern kleine Gespräche führe.
Wir proben hier gerade, sagte mein Nachbar, der Opernsänger ist und Tobias heißt wie mein Mann und der eben gefundene Vorfahre, Tobias hatte ein Engagement in einer Warschauer Produktion der Oresteia von Xenakis, ausgerechnet, wir standen in der Kälte, überrascht von unserem Zusammentreffen, ich wusste nicht, auf welche Probe wir gestellt wurden, und ich erwähnte, dass ich mich gerade mit dem Thema Nachbarn beschäftigte und damit, wie es hier wohl gewesen sein muss im Krieg, als alle die Nach
barn von allen waren, und er erzählte mir begeistert von der Gewalt in der Xenakis-Oper, von der unendlichen Kette der Geopferten und Getöteten, Agamemnon tötet seine Tochter Iphigeneia, Iphigeneias Mutter Klytaimnestra tötet ihren Mann Agamemnon, als er aus dem Trojanischen Krieg zurückkommt, und Orestes tötet seine Mutter Klytaimnestra und wird von den Erinnyen verfolgt, und dann das Schlagzeug, die berühmte Schlagzeugszene, und wie schön es sei, dass man sich zufällig sehe, wie nett und Tschüss, doch im Weitergehen hörte ich den Einmarsch der Erinnyen in die schnell eindunkelnde Stadt.
Nike
In meiner Kindheit zeichnete ich zur Lektüre der Legenden und Mythen des antiken Griechenland mit Bleistift eine Galerie der Götter und Helden, jede Figur auf einem eigenen Blatt. Ich las die eng gedruckten Mythen aufmerksam und immer wieder, so dass das Glanzpapier der Prachtausgabe allmählich matt wurde von meinen Fingerabdrücken, dem einzigen Personalausweis, den ich damals hatte, eine Bescheinigung meiner Person, die ich auf den Feldern, Felsen und Meeren der antiken griechischen Welt zurückließ. Irgendwann floss auch mein Blut auf die Seiten, das erste Nasenbluten meines Lebens, es wurde sofort vom griechischen Boden aufgesaugt und gab den Mythen die Terrakottafarbe antiker Keramik, als ob ich bei den griechischen Schlachten dabei gewesen und nur in den Pausen zur sowjetischen Schule gegangen wäre.
Ich zeichnete den ganzen Olymp samt Umgebung, Apollon, Athene, Zeus und Artemis, Herkules, Polyphem, Odysseus, Pan mit seiner Flöte und sogar die wuscheligen Schafe. Ich war neun oder zehn Jahre alt, und mir war unheimlich, mit welcher Selbstverständlichkeit die Götter und Helden uns ihre Körper zeigten, ihre nackten Muskeln, Brüste, Genitalien. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass wir oder unsere Erwachsenen dazu imstande wären, solche Posen einzunehmen, in der ewigen Ruhe des Körpergenusses, nicht einmal allein, wenn man nicht gesehen wird. Ich mochte das Anderssein dieser unerreichbaren Griechen, doch ich wusste nicht, was ich mit den mir zugewandten Geschlechtsorganen machen sollte, wie ich sie in meiner allmählich entstehenden Galerie der Götter und Helden wiedergeben sollte, bis ich eine radikale Lösung fand. Ich malte die Götter und Helden mit dem Rücken zum Betrachter,
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