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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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eingerichtet wurde, und ob meine Verwandten in Kiew noch koscher aßen, und wie es in Kiew überhaupt war mit koscher, und was für ein kuscheliges Wort dieses koscher ist, und ob es im Jahr 1940 noch wichtig war, denn Hauptsache Essen, und ich dachte auch daran, dass es mit unserem Judentum so ist wie mit diesen Paketen, in die man nicht mehr hineinschauen kann. Man sagt jüdisch, weiß aber nicht, womit das Wort gefüllt ist.
     
    Die Ulica Ciepła fand ich auf der Karte des Ghettos. Ich zeichnete mir dazu meinen eigenen Plan. Sechs Linien horizontal und sechs vertikal, in der zweiten Spalte von unten, ziemlich in der Mitte, machte ich ein Kreuz für unser Haus, Ciepła 14.
    Es war kalt. Warum reise ich immer im Winter? Die Bebauung wirkte chaotisch. Der Weg durchs Ghetto: ein Kaufhaus, ein Bürogebäude, ein Wellness-Zentrum, ein Westin-Hotel, kleine Geschäfte, ein Friseur, ein Internetcafé, eine Bäckerei, eine Ruine aus ungewissen Zeiten, noch ein Hotel. Wer wohnt in all diesen Hotels?
    Wieder und wieder lief ich die Ulica Ciepła auf und ab. Natürlich hatte ich vorher gewusst, dass von meiner Gegend nichts geblieben ist, doch auf meiner Suche ging ich hin und her wie ein Pendel, ein Messinstrument, wie der Zeitverlauf selbst, ohne Verlangsamung, als ob ich durch dieses Pendeln ein Ritual vollziehen würde, das ich dabei
selbst ertastete und ersann, in der Hoffnung, die Umrisse der Zeit zu erkennen. An einer Stelle roch es nach Brot, an einer anderen nach Internetverbindungen, ich hätte in ein Lokal gehen können, um mich aufzuwärmen, Tee zu trinken und Piroschki zu essen, zu leben, ich ging aber hin und her. Ich ging und ging und glaubte, die alten Häuser würden hervortreten und die Vergangenheit mir ihr Antlitz zeigen, aus Respekt vor meiner sinnlosen Mühe. Doch dafür ging es mir noch nicht elend genug.
    Irgendwann wurde mir so kalt, dass ich in einen Supermarkt trat und meine Ghetto-Karte noch einmal studierte. Ich kannte die neue Ulica Ciepła auswendig, wusste aber immer noch nicht, in welchem Block sich mein Haus befunden hatte. Mir gegenüber standen gutgekleidete polnische Bürger in einer Schlange. Sie erledigten ihre Einkäufe, während ich mich mit der verschwundenen Welt beschäftigte, die einstmals auch die Stadt ihrer Vorfahren war und nicht nur die Stadt von irgendwelchen anderen. Sie waren mir sympathisch, und ich wollte ihnen auch sympathisch sein, ich wollte so sehr, dass jemand von ihnen versteht, was ich hier suche.
    Zwei Städte
    Als Tourist muss man sich entscheiden, mit welcher Katastrophe man die Stadt betritt, Warschauer Aufstand oder Ghetto, als hätte es zwei Warschaus gegeben, und manche meinen, es habe tatsächlich zwei gegeben, getrennt durch Zeit und Raum.
    Im Stare Miasto, der Altstadt, tragen die Häuser Tafeln wie ein Kriegsveteran Medaillen, die Tafeln gelten dem Warschauer Aufstand, und es gibt so viele davon, dass nicht nur die Häuser des Zentrums sich auf die Tafeln hätten stützen können, sondern das ganze polnische Volk. Vor dem Krieg wurde in Warschau jüdisch geglaubt, gegessen und gesprochen, anders als im Kiew meiner Kindheit. Nun wirkten die Spuren dieses Lebens wie Fremdkörper. Im Jahr 1939, als der Krieg begann, lebte eine Million Menschen in Warschau, neununddreißig Prozent davon Juden. Ich bin jedesmal erstaunt, dass die Mörder und diejenigen, die des Mordes gedenken, immer genau wissen, wie man zählt, diese Neununddreißig veränderte für mich alles. Bei neununddreißig geht es nicht mehr um wir und die anderen, sondern um dich und deinen Nachbarn, dachte ich, um jeden zweiten oder dritten, um dich und mich. Im Jahre neununddreißig neununddreißig Prozent.
    Wie soll man dieser Hälfte der Stadt gedenken? Und wie kann man hier noch leben? Wenn man wie in Berlin für jeden Menschen einen Stolperstein der Erinnerung in den Bürgersteig einlassen würde, wären die Gassen und Straßen von Warschau mit goldenen Steinen gepflastert. Die Menschen und die anderen Menschen, die Opfer und die anderen Opfer, immer gab es die anderen, egal, woher man kam, Polen und Juden, Juden und Polen, und wenn sie in Katyń umgekommen waren, durften sie Polen sein, aber ihre Frauen und Kinder blieben Juden und lebten im Ghetto.
    Family Heritage
    Dort wo ich das Jewish Genealogy & Family Heritage Center suchte, stand ein dunkelblau verspiegelter Wolkenkratzer von Peugeot, eine endlose Wand nach rechts, links und oben. Ich ging ein paar Schritte zurück und studierte die

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