Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
Vom Netzwerk:
demonstrieren, schaut alle, ich habe es! hier unten, o mein deutsch! ich schwitze, mit meiner auf die zunge geklebten deutschen sprache
    Life Records
    Namen, Daten, drei Orte: Geburt, Krieg, Tod, mehr nicht. Auf dem Bildschirm sind die Death Records von Zygmunt Krzewin und seiner Frau Hela Krzewina-Hammer zu sehen. Kalisz-Warschau-Lublin, Kalisz-Warschau-Treblinka. Die beiden waren die letzten aus unserer polnischen Sippe, an die sich meine Kiewer Familie noch halbwegs erinnerte.
    Das Wort Death, diese abgespielte Platte von Death Records, beschäftigte mich in seiner Endgültigkeit so sehr, dass ich das Wort Testimony übersehen hatte. Wenn Yad Vashem ein Todesdokument, ein Zeugnis hatte, dann muss
te auch jemand überlebt haben, jemand wusste Bescheid und bezeugte Namen, Daten und Orte. Ich hatte Monate gebraucht, um den Blick zu senken, von den Todeszeilen oben im Dokument zu dieser Lebensnachricht unten. Dort stand ein Name, eine Adresse und das Wort Nichte. Mira Kimmelman, Oak Ridge, TN , USA 1992. Ich konnte nicht damit rechnen, dass diese Frau noch lebte, doch als ich Mira Kimmelman Oak Ridge in den Computer eingab, kam eine mächtige Welle auf mich zu, Mira, eine Holocaust-Überlebende, weit über Tennessee hinaus bekannt, und sollte sie noch leben, war sie 87 Jahre alt. Mira – die Nichte von Hela Krzewina, die damals mit ihrem Mann Zygmunt nach Kiew gekommen war. Meine Urgroßeltern, die Eltern von Zygmunt, kannte Mira offenbar nicht, deren Spalte in den Death Records ist leer.
    In Berlin war es Nacht, in Oak Ridge noch heller Tag, als Google mir Vorträge, Auftrittsdaten, Bücherangebote lieferte sowie ein Interview mit Mira auf oakridge.com vom 5. Mai 2009, es war spätnachts, als ich der Journalistin eine E-Mail schrieb in der verwegenen Hoffnung, sie könne einen Kontakt zu Mira herstellen, bitte lass sie noch leben, denn ich habe heute Geburtstag, aber nur in Berlin, in Oak Ridge ist es noch gestern, vor zwei Stunden gab es noch keine Mira, und schon kam die Antwort der Journalistin, dabei war mir, als hätte ich meine Nachricht Mira Kimmelman – my relative noch gar nicht abgeschickt, die Journalistin war so aufgeregt wie ich, denn sie hatte eine Mail von morgen erhalten, aus einer längst vergangenen Zeit, und sie versprach, mit dieser Nachricht von der Verwandtschaft, wie sie es nannte, sofort, jetzt gleich, zu Mira zu gehen, die keinen Computer hätte. Oak Ridge, Oak
Ridge, wiederholte ich, der Schrei eines Nachtvogels, der erste Atomreaktor der Welt war hier gebaut worden. Als man 1943 in Osteuropa die Ghettos liquidierte, wurde die Stadt Oak Ridge gegründet, als geschlossene Siedlung für die Entwicklung des Manhattan Project. Auf der Website des Oak Ridge National Laboratory heißt es noch immer: »Gegründet für die Atombombe, die den Zweiten Weltkrieg beendete.« Oak Ridge hat die Welt gerettet.
    Bei meinem Versuch, die inneren Verbindungen meiner Familie, unsere Leitmotive zu begreifen, las ich stundenlang über den Atomreaktor von Oak Ridge, und als ich dachte, neben einem Reaktor darf man doch nicht leben, stieß ich auf das Datum. Der Graphitreaktor von Oak Ridge wurde am 4. November 1943 in Betrieb genommen. Dieses Datum haben wir in der Schule gelernt, an diesem Tag begann die Schlacht um die Befreiung von Kiew, meiner Heimatstadt. Stalin wollte, dass am 7. November, dem Jahrestag der Revolution, sowjetische Truppen durch die Stadt marschieren, und unsere Lehrer wollten, dass wir uns daran erinnern. Ich erinnerte mich und wartete auf eine Nachricht von Mira.
    Am nächsten Morgen fand ich ihre Antwort in meiner Mailbox, getippt von der Journalistin. Mira freute sich wie ein Kind. Sie könne es nicht erwarten, von jemandem aus der Verwandtschaft zu hören, weit entfernt, aber je weniger geblieben sind, desto näher ist man sich. Sie stellte mir Fragen über meine Familie, über mich, empfahl mir ihre beiden Bücher, besonders Life Beyond the Holocaust , und erzählte von meinen Cousinen in England. Sie fragte mich, welche Sprache mir lieber sei, Englisch oder Deutsch, dabei hatte ich befürchtet, dass schon meine Ber
liner Adresse ein Problem sein könnte. Beyond steckte in meinem Kopf, auf Deutsch Jenseits, ein apokalyptisches Wort, Jenseits von Gut und Böse. Am Ende der E-Mail stand ihre Telefonnummer. Aber ich war zu aufgeregt, als wäre ich verliebt, und rief nicht an.
    Miras Bücher bestellte ich sogleich bei Amazon, 4-6 Wochen Lieferzeit und Bitte antworten Sie nicht auf

Weitere Kostenlose Bücher