Vielleicht Esther
Schule.
In den dreißiger Jahren änderte sich der Ton der Berichte, oft wurden die Besucher ungnädig, ihre Gutachten vernichtend. Erst war Schluss mit den Gebeten, mit Hebräisch und Jiddisch, dann mit Ozjels unkonventionellem Lehrplan. Später wurde die Gebärdensprache verboten, sie galt als sichtbares Merkmal einer Minderheit, einer geschlossenen Gesellschaft, doch in der Sowjetunion durfte es keine Minderheiten mehr geben. Den Internationalisten standen alle Türen offen, eine große Familie und eine große Sprache. Ozjel versuchte, seine Sprachen zu retten, er widersetzte sich, ging Kompromisse ein, verhandelte. Seine Tochter Rosa folgte ihm auf dem Direktorenposten nach.
Er starb rechtzeitig, wie man von diesen Zeiten zu sagen pflegt, Anfang Oktober 1939 an einem Herzinfarkt im noch friedlichen Kiew. Am 1. September hatte Deutschland Polen überfallen. Am 17. September waren die Truppen der Roten Armee von der anderen Seite her auf Polen zumarschiert. Als Warschau fiel und Polen kapitulierte, kochte Ozjel gerade heißes Wasser für ein Bad, denn es war Sonntag. Mit Warschau fiel auch Ozjel, der sein Polen nie wiedergesehen hatte.
Ulica Ciepła
Ich wollte nach Warschau, damals Russisches Reich, heute Europäische Union. Zwischen dem Warschau von heute und dem Warschau von damals liegt eine der zerstörtesten Städte Europas. Ich wollte hin, wenn auch nur, um die Luft zu riechen.
Ich fuhr als Russin aus Deutschland in das jüdische Warschau meiner Verwandten, nach Polen, nach Polscha, es schien mir, als machten mich meine beiden Sprachen zu einer Vertreterin der Besatzungsmächte. Als Nachkommin der Kämpfer gegen die Stummheit war ich einsatzbereit, aber sprachlos, ich beherrschte keine der Sprachen meiner Vorfahren, kein Polnisch, kein Jiddisch, kein Hebräisch, keine Gebärdensprache, ich wusste nichts über die Shtetl, ich kannte kein Gebet, ich war Anfängerin in all jenen Disziplinen, zu denen meine Verwandten sich berufen fühlten. Mit meinen slawischen Sprachen versuchte ich, das Polnische zu erraten, Ahnungen ersetzten Kenntnisse, Polen war taub, ich war stumm.
O. Krzewin. Taubstummenschule, Ulica Ciepła 14, Warszawa.
Heinrich Schliemann hat sein Troja zuerst gar nicht bemerkt, weil er zu tief gegraben hatte. Ich reiste in ein Warschau, das zwei Epochen zuvor existiert hatte. Um überhaupt etwas sehen zu können, musste ich die Trümmer ignorieren, die zwischen mir und jener Zeit vor hundert Jahren lagen.
Es genügt, die Worte Warschau und Juden auszusprechen, und schon reden alle über das Ghetto, als ob es ein mathematischer Vorgang wäre, Warschau plus Juden gleich Ghetto. Ghetto sagen die Historiker, Ghetto sagen meine Freunde, Ghetto bellt das Internet. Ich versuchte, im Internet darüber zu klagen, als wäre das Internet die Klagemauer der Ungläubigen, stieß aber auch dort auf die Mauern des Ghettos. Ich versuchte, mich dagegen zu wehren, ich wiederholte, dass das Ghetto natürlich das Wichtigste sei, ich hier aber meine Geschichte suche, die viel früher anfange, meine Großmutter sei 1905 in Warschau geboren, mein Urgroßvater habe hier bis 1915 eine Taubstummenschule gehabt und Schluss. Aber mein Gesprächspartner, mein Gegenüber, die Warschauer Geschichtsschreibung und ihre gut gerüsteten Vorposten in Internet und Wissenschaft – sie waren in der Überzahl, und sie alle sagten Ghetto. Ghetto dort! Ghetto hier! Ghetto da! Ghetto oben! Ghetto unten! Sie glitzerten in ihrem Harnisch und blendeten meinen Verstand. Und irgendwann habe ich mich ergeben. Meine Großmutter wurde hier geboren. Mittendrin. Lasst uns endlich im Ghetto sagen. Es gab 1905 kein Ghetto, und es gibt jetzt keins. Wo einmal ein Ghetto war, stehen Bankgebäude. Das Ghetto ist überall.
Als Ozjel Warschau verlassen hatte, blieben seine Mutter und seine Schwester Maria zurück, ich hatte nie daran gedacht, aber langsam eroberte mich ein Satz. Als Ozjel 1939 starb, haben wir seiner Mutter in Warschau nichts gesagt, sie war schon einundneunzig. Und dann leuchtete noch einer auf. Wir haben Pakete nach Warschau geschickt, noch 1940, später wurden sie nicht mehr angenommen. Wie viele Jahre steckten diese beiden Sätze in mir, bis ich sie hörte?
Wir haben ihnen Pakete geschickt. Ich spürte die Größe dieses kleinen Satzes und dachte die ganze Zeit daran, womit diese Pakete wohl gefüllt waren, die aus Kiew nach Warschau geschickt wurden, ob sie in Warschau noch koscher aßen im Sommer 1940, als das Ghetto
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