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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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Oberfläche des Wolkenkratzers, als machte ich einen Augentest und tastete die Glasscheibe ab nach Family Heritage, bis ich eine Tafel aus Plexiglas entdeckte, die nur sehen kann, wer ohnehin in diesen Dingen unterwegs ist. Ich ging näher heran und las. Hier stand die größte Synagoge Warschaus, gebaut dann und dann, gesprengt dann und dann, dazu ein Foto. Im Erdgeschoss, neben einem Supermarkt und einer Auto-Ausstellung, fand ich Family Heritage und öffnete die schwere Tür.
     
    Die Suche ging schneller, als ich erwartet hätte. Ich habe es, sagte Anna und zeigte mir eine Tabelle im Computer. Wir saßen eng beieinander am Tisch im Büro, nach wenigen Sekunden hatten wir die richtige Schreibweise aller Namen. Ozjel Krzewin heiratet 1895 Estera Patt, erklärte sie mir, und 1898 bekommen sie einen Sohn namens Szymon, euren Zygmunt. Ich war erst zehn Minuten im Institut, und schon hatte ich neue Daten und einen neuen Namen, Estera Patt, die erste Frau von Ozjel. Sie haben Glück, sagte Anna, dass Ihre Familie nicht direkt aus Warschau stammt. Glück?
    Von Warschauer Familien sei kaum etwas erhalten, alle Archive wurden zerstört. Die christliche Bevölkerung wurde bei Geburt, Heirat und Tod jeweils doppelt registriert, in
der Kirche und in der Stadtverwaltung, die jüdische jedoch nur einmal, sagte Anna, deshalb kann man die Daten der Polen teilweise rekonstruieren, doch für die Juden war der Verlust natürlich fatal, sagte Anna. Ich dachte an dieses Natürlich fatal , nicht nur waren die Menschen verschwunden, es haben sich auch kaum Hinweise erhalten, dass es sie jemals gegeben hat. Anna sprach wieder von meinem Glück, als könne man in diesem Spiel etwas gewinnen, als hätte ich alle Trümpfe in der Hand. Dazu kommt, fuhr sie fort, dass Ihre Familie einen seltenen Namen hatte.
    Die Familie Krzewin stammt aus der Region Kalisz. Sie zeigte mir die Tabellen mit Namenlisten meiner mutmaßlichen Verwandten, Dutzende von Hawas und Ozjels, Rivkas und Bajlas, Rajzla, Icek, Frajda, Józef, Natan, wieder Rajzla und ein Tobiasz. Krzewins aus dem Shtetl Koło, nicht weit von Kalisz.
    Tobiasz Krzewin erstaunte mich besonders. Er war einer der ersten, die in den Familientabellen erwähnt wurden, sein erstes Kind wurde in dem Jahr geboren, in dem Joseph Haydn Il ritorno di Tobia schrieb, Die Rückkehr des Tobias. Mein Mann heißt Tobias, ich kannte den Namen nur im deutschen Kontext und hatte niemals an Tewje, der Milchmann , Tewje, Tobias, gedacht, den Roman von Scholem Alejchem und das Musical Fiddler On The Roof, Anatevka .
     
    Blieben noch Zygmunt und Hela.
    Hier, hier, ich sehe sie beide, Anna drehte den Bildschirm zu mir, und ich sah zwei Death Records aus Yad Vashem. Vielleicht bin ich nur deshalb nach Warschau gefahren, um diesen Internet-Fund aus Annas Händen entgegenzunehmen: Zygmunt Krzewin, geboren in Kalisz, wäh
rend des Krieges in Warschau, deportiert nach Lublin, erschossen 1943. Hela Krzewina (Hammer), geboren in Kalisz, während des Krieges in Warschau, deportiert nach Treblinka, Todesdatum August 1942.
    Ich brauche noch mein Haus, sagte ich rasch zu Anna. Plötzlich wirkte alles sehr langsam, wie in Zeitlupe. Stara Warszawa, Anna zeigte mir eine Website, das Warschau der Vorkriegszeit. Hier ist ein Foto der Ulica Ciepła, allerdings nicht von dem Abschnitt, den Sie brauchen.
    Gehen Sie rüber zu Janek, sagte Anna, er hat alles.
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    Jan Jagielski war gut siebzig Jahre alt und begrüßte mich mit der überschwenglichen Höflichkeit eines Gentleman der vergangenen Epoche. Er führte mich in ein geräumiges Zimmer des Zydowski Instytut Historyczny : Schränke mit dicken Glastüren und schweren Rahmen, Tische, die auf Löwenpfoten standen, Stühle aus dunklem Holz, Regale mit Hunderten von Ordnern. Ich suche die Ulica Ciepła 14, sagte ich und erzählte meine Geschichte. Die Ciepła!, sagte Janek, ich wohne um die Ecke, das ist eine Arme-Leute-Gegend gewesen. Er zog einen Ordner aus dem Regal mit der Aufschrift Bezirk Mirów und zeigte mir Fotos aus der Gegend. Er zitierte Louis Aragon und murmelte in einer Mischung aus Französisch, Russisch und Polnisch vor sich hin. Plötzlich richtete er sich auf, als ob er mir eine Ehrenbezeigung erweisen wollte, und sagte, hier ist es, das Foto.
    Viele, sehr viele Menschen sind auf der Straße, manche schauen mich an, voller Angst, als ob eine Gefahr von mir ausginge, als wäre ich der Fotograf, ein Täter. Judensterne. Hier ist das Haus. Sie haben Glück, sagte

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