Vielleicht Esther
als ob sie sich von uns abwenden würden, als hätte ich gewusst, dass die Götter uns verlassen werden, ich malte sie so, dass man ihre göttlichen Attribute sehen konnte, aber nicht ihre menschlichen Schätze.
Von meiner Galerie hat nur Nike, die Göttin des Sieges, alle Zeiten und Regierungen überlebt. Das Blatt besitze ich noch heute, eine Figur mit gut geformtem Hintern und zwei breiten Flügeln, gesichtslos, geschlechtslos, wie ein Engel.
Das falsche Haus
Ich rief meine Mutter an und machte den Versuch einer Zusammenfassung, Mama, ich habe Zygmunt gefunden, den ältesten Sohn von Ozjel, und Helena, seine Frau, du weißt, die beiden, die damals aus Polen kurz zu Besuch nach Kiew gekommen waren. Beide sind auf der Liste von Yad Vashem. Nein, kein Fehler. Im Internet. Nein, von Ozjels Mutter und Maria keine Spur. Dann schüttelte ich alle Rivkas, Bajlas, Rajzlas, Iceks, Frajdas, Józefs, Natans, alle unsere neuen Altverwandten wie aus einem Füllhorn, und weißt du, Mama, dass die erste Frau von Ozjel Estera Patt hieß? Ja, sagte meine Mutter, natürlich, ich weiß, sie war stumm, ja, Ozjel war in erster Ehe mit einer taubstummen Frau verheiratet, die ist ganz früh gestorben, das habe ich dir tausendmal erzählt. Ich konnte es nicht glauben, nie hatte sie davon erzählt. Aber meine Mutter blieb dabei, sie habe mir von Estera Patt erzählt, sogar mehrmals, sie blieb so hartnäckig dabei, als hätte sie mir ein Wiegenlied davon gesungen, dass die erste Frau meines Urgroßvaters taubstumm gewesen sei, Estera Patt war stumm, mm, Estera Patt war stumm.
Und dann sagte ich, Mama, stell dir vor, ich habe das Haus gefunden, Ulica Ciepła 14, nein, nur das Foto, und meine Mutter sagte, ja, unglaublich, wirklich wunderbar, aber es tut mir leid, ich habe ganz vergessen, dass das Haus, das du gesucht hast, die Nummer 16 war und nicht 14. Entschuldige, Katenka, wir haben überall Nummer 14 geschrieben, aber das Waisenhaus und die Schule und die Wohnung waren in der Nummer 16.
Mir wurde schwindelig. Ich fühlte mich als Betrogene und Betrügerin zugleich, wie viele hatte ich aufgescheucht, mir meine Nummer 14 zu suchen, und nun war sie falsch, mein Haus war nicht mehr meins.
Dieses Foto der Ulica Ciepła 14 von 1940 mit all den Menschen, die drei Jahre später tot sein würden, ich würde zurückgehen und Janek sagen müssen, dass wir das alles umsonst gefunden und erlebt hatten, weil meine Verwandten vor dem Ersten Weltkrieg in der Nummer 16 gelebt und gearbeitet hatten, nimm deine Toten bitte zurück, du stehst vor dem falschen Haus in der falschen Zeit.
Ich schaute das Foto noch einmal an. Was für ein Glück! Auf dem Foto, das Janek vor einem Jahr auf Ebay gekauft hatte, waren zwei Häuser zu sehen, Nummer 14 und Nummer 16. Ich schaute die Umrisse der Häuser auf der Ghetto-Karte an. Sie sind beide da, ich besitze zwei Häuser und auch die Menschen, die davor stehen, ich kann mir nicht vorstellen, dass noch jemand zu Janek kommt auf der Suche nach der Nummer 14, und sei es nur infolge einer Verwechslung.
Kozyra
Überall in der Stadt hingen Plakate für ein Casting, das Wort hatte ich schon im Ghetto gesehen, die Ankündigung einer Ausstellung der Videokünstlerin Katarzyna Kozyra. Auch der Name Kozyra schoss mir ins Herz, kozyr' ist auf
Russisch der Trumpf, kozyrnaja karta , ich überließ mich meinem Glücksspiel und roch die Luft, nirgendwo habe ich mich so perfekt verloren gefühlt wie hier in Warschau. Ich dachte auf Russisch, suchte meine jüdischen Verwandten und schrieb auf Deutsch. Ich hatte das Glück, mich in der Kluft der Sprachen, im Tausch, in der Verwechslung von Rollen und Blickwinkeln zu bewegen. Wer hat wen erobert, wer gehört zu den Meinen, wer zu den anderen, welches Ufer ist meins?
Mehrmals waren Einwohner des Ghettos für Propagandafilme benutzt worden, in Film Unfinished , einem Film, der im Warschauer Ghetto gedreht worden war, mit dokumentarischen und nachgestellten Szenen, so dass man nicht weiß, welche welche sind, und nicht versteht, für wen und wofür diese Aufnahmen gemacht wurden, man wird gezwungen, auf die Menschen im Ghetto zu schauen, mit dem verunsicherten Auge eines Kameramanns der Wehrmacht, der selbst nicht wusste wozu.
In einem dunklen Raum liefen Videos. Ich hatte immer noch kalte Hände, Kozyra hatte sich mit angeklebtem Bart in eine Männersauna eingeschlichen, bedeckt mit Handtüchern, sah sie aus, als wäre sie ein zierlicher junger Mann.
Weitere Kostenlose Bücher