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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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ein Anspruch auf Rehabilitierung bestehe, der Angeklagte also unschuldig sei. Das sei hier nicht der Fall, befand der Oberst und erklärte die Dokumente für gesperrt. Er ist schuldig, kein Zweifel, sagte mein Bruder, aber stellen Sie sich vor, Herr Oberst, ein arbeitsloser parteiloser Jude fährt nach Leningrad, klaut
einen Revolver, fährt zurück nach Moskau, lungert mehrere Tage unbemerkt vor der Botschaft herum, wo es mehr Spitzel gibt als Menschen, und schießt auf einen deutschen Diplomaten – und das im Moskau von 1932.
     
    –  Herr Oberst, vielleicht gibt es in den Akten eine Andeutung, wer ein solches Attentat gebrauchen konnte?
    –  Die Akten sind knapp, nichts Wichtiges. Wir haben das Nacherschießungsfoto und zwei Kugeln.
     
    Diese Kugeln haben mir gereicht, sagte mir mein Bruder.
     
    Jedesmal, wenn ich an die Lubjanka dachte, Gefängnis und Folterzentrale, wo auch Judas Stern verschwunden war, dachte ich an Organe. Wir haben diese Behörde immer als Organy bezeichnet, er arbeitet in den inneren Organen, hieß es, und damit hatten sie Macht über unser Inneres, oder man sagte einfach Er arbeitet in den Organen , als gäbe es einen Organismus, der uns alle verschluckt hat. Seit meiner Kindheit habe ich mir diese Organe vorgestellt, riesige dunkle Eingeweide, in denen manche Menschen arbeiten, und wenn man dort eintritt, wird man bei lebendigem Leib verdaut, denn das ist die Funktion der Organe. Mir reichte schon die Vorstellung, ins Archiv der Lubjanka gehen zu müssen, um von einer Urangst überwältigt zu werden.
    Du kommst ins Archiv, berührst ein Blatt Papier, und schon arbeitest du in den Organen, bist eine von ihnen, du hältst dich an die Regeln, und doch wird dir mitgespielt, du bist in ihrer Gewalt. Du atmest ihre Luft, die Luft ist für alle, und schon bist du infiziert. Jedesmal, wenn ich auch nur dachte, ich müsse dorthin, ins Archiv, erschlafften
meine Glieder, und die Ohnmacht des Nichtstuns lähmte mich, als sollte diese Schwäche mich vor der Frage bewahren, wer hier den Staub der Ermordeten berührt. Diese unwillkürliche Weigerung hätte mich außer Gefahr bringen können, denn wer nichts tut, begibt sich nicht in ihre Gewalt, und wer nichts tut, ist auch kein Täter.
     
    Obwohl für Besucher auf der Lubjanka keine Gefahr bestand, habe ich das Archiv nie betreten.
     
    Das ist für den Anfang, sagte der Archivar und legte mir drei dicke Bände auf den Tisch. Hier, in der ehemaligen Reichsbank, waren die Gefahren berechenbarer – oder wusste ich weniger darüber? –, hier hatten sich die Goldtresore der Nazis befunden, und weil die Alliierten verhindern wollten, dass das Gold Zivilisten in die Hände fiel, wurde das Gebäude als eines der wenigen im Berliner Stadtzentrum nicht zerbombt. Später zog das Zentralkomitee der SED ein, und heute hat hier das Auswärtige Amt sein Archiv.
    Eine unverhoffte Erbmasse: drei Bände zum Attentat, verfasst auf Deutsch. Berichte der deutschen Botschaft in Moskau, Brief- und Telegrammwechsel, Notizen des Auswärtigen Amts, Zeitungsartikel, Übersetzungen, Gerichtsprotokolle, Radiosendungen. Hunderte von Dokumenten zum Attentat von Judas Stern. Ich dachte, ich sei die erste in der Familie, die auf Deutsch vorkommt, nun fand ich auf jeder Seite den Namen Judas Stern.
     
    Ich sitze vor einem Haufen Papier, fast ohnmächtig vor Aufregung, ohne zu wissen, was ich aus diesem Haufen
bauen werde. Ich lerne gotische Schrift, nun werde ich alte deutsche Bücher lesen können. Die Zeitungsartikel aus dem Jahre 1932 zerfallen in meinen Händen. Vielleicht bin ich die erste, die diesen Ordner liest. Gelbe Schnipsel liegen überall. Jeden Tag, wenn ich nach Hause gehe, bleiben an meinem Tisch kleine Papierstückchen mit gotischen Buchstaben aus dem Frühjahr 1932 zurück.

     
    Deutschland zerbröselt, wird immer unfassbarer. Die Schnipsel bleiben an der Kleidung hängen, in der Tastatur des Computers, ich trage dieses Jahr durch die Gegend, dehne es aus, schüttele diesen goldenen Vorrat in die Luft, mitten in Berlin, im Herbst, und nehme ihn mit nach Hause. Nationalsozialistische Arbeiter treten gegen Kommunisten an, Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt ? kommt ins Kino, Frauen protestieren, der politische Terror wächst. Je weiter ich lese, desto schneller zerfallen die Blätter. Ich möchte nicht weiterlesen, ich lese jeden Tag weiter. Ich stelle mir vor, wie am Ende des Lesens das Papier komplett zerfallen und das Wissen verschwunden

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