Vielleicht Esther
von diesem Spaziergang so erzählen, als ob es möglich wäre zu verschweigen, dass auch meine Verwandten hier getötet wurden, als ob es möglich wäre, als abstrakter Mensch, als Mensch an sich und nicht nur als Nachfahrin des jüdischen Volkes, mit dem mich nur noch die Suche nach fehlenden Grabsteinen verbindet, als ob es möglich wäre, als ein solcher Mensch an diesem merkwürdigen Ort namens Babij Jar spazieren zu gehen. Babij Jar ist Teil meiner Geschichte, und anderes ist mir nicht gegeben, jedoch bin ich nicht deswegen hier, oder nicht nur. Irgendetwas führt mich hierher, denn ich glaube, dass es keine Fremden gibt, wenn es um Opfer geht. Jeder Mensch hat jemanden hier.
Ich dachte schon immer, dass die Juden im Ghetto privilegiert waren, fast hätte ich gesagt, dass sie Glück hatten. Man hatte mehr Zeit, um zu verstehen, wohin es sich entwickelt und dass man wahrscheinlich bald sterben wird. Zehn Tage nach dem Einmarsch der Deutschen in Kiew,
Ende September 1941, wurde hier in Babij Jar die ganze verbliebene jüdische Bevölkerung Kiews getötet, kaum verborgen vor den Augen der übrigen Stadtbewohner und mit Hilfe der westukrainischen Polizei. Kiew, die älteste russische Stadt, in der auch die Juden seit tausend Jahren gelebt hatten, wurde judenfrei. Ja, man nennt diese Opfer für gewöhnlich Juden, aber viele meinen damit nur die anderen. Das ist irreführend, denn die, die da sterben mussten, waren nicht die anderen, sondern die Schulfreunde, die Kinder aus dem Hinterhof, die Nachbarn, die Omas und die Onkel, die biblischen Greise und ihre sowjetischen Enkel, die man am Tag des 29. September auf den Straßen von Kiew in diesem endlosen Zug ihres eigenen Begräbnisses die Bolschaja Shitomirskaja entlanggehen sah.
Ich habe nie verstanden, warum dieses Unglück immer das Unglück der anderen sein sollte. »Saemtliche Juden der Stadt Kiew und Umgebung haben sich am Montag, dem 29. September 1941 um 8 Uhr, Ecke Melnik- und Dokteriwski-Straße (an den Friedhoefen) einzufinden.« So hatte es die Wehrmacht plakatiert, und die Hausmeister hielten ihre Bücher bereit, um sicherzustellen, dass wirklich Saemtliche gingen. Als sie nach Babij Jar kamen, mussten sie sich ausziehen, wurden nackt durch die Reihen der Polizei getrieben, angeschrien und geschlagen – und dort, wo man durch die Öffnung den Himmel sah, am Rand der Schlucht, wurden sie von beiden Seiten mit Maschinengewehren erschossen. Oder anders: Nackte Lebende liegen auf nackten Leichen, erst dann wird geschossen, die Kinder wirft man einfach so auf die Leichen, um sie lebendig zu begraben, das spart Munition.
Ich gehe durch eine mit Gestrüpp bewachsene flache Landschaft. Die Aktion sei reibungslos verlaufen, meldete der Führer des Sonderkommandos Anfang Oktober 1941 nach Berlin. War es hier? Die Menschen gehen spazieren, reden, gestikulieren in der Sonne. Ich höre nichts. Die Vergangenheit schluckt alle Laute der Gegenwart. Es kommt nichts mehr hinzu. Kein Raum mehr für Neues. Mir ist, als ob diese Spaziergänger und ich uns auf verschiedenen Leinwänden bewegen. Gibt es etwas in ihrer Gestik, was den Ursprung der menschlichen Gewalt verrät? Oder den Hang, zum Opfer zu werden? Wäre es mir lieber, wenn Babij Jar nun wie eine Mondlandschaft aussehen würde? Exotisch? Giftig? Alle Menschen – vom Leid zerfressen? Warum sehen sie nicht, was ich sehe?
Kiew war einer von vielen Orten, wo es passierte, man sagt, es sei das größte zweitägige Massaker des Holocaust. 33 771 Menschen tötete man in zwei Tagen. Eine merkwürdig genaue Zahl. Und später noch 17 000 Juden, und noch später zählte man nicht mehr. Die ersten, die in Babij Jar getötet wurden, waren die Patienten der psychiatrischen Anstalt. Sie wurden ganz still am Rand der Schlucht in Gaswagen umgebracht, auf dem Gelände der psychiatrischen Klinik. Ein paar Tage später kamen die Juden dran. Zwei Jahre lang wurde hier getötet: Kriegsgefangene, Partisanen, Matrosen der Kiewer Flotte, junge Frauen, weitere Juden aus der Region, Passanten, die von der Straße weg festgenommen wurden, drei komplette Zigeunerlager, Priester sowie ukrainische Nationalisten, die zuerst mit den Deutschen kollaboriert hatten und ihnen dann ebenfalls zum Opfer fielen. Nach verschiedenen Berechnungen sind
in Babij Jar zwischen hundert- und zweihunderttausend Menschen getötet worden. Dieses Plusminus hunderttausend – man weiß nicht einmal, ob es ein Babij Jar gab oder zwei.
Früher,
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