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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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russischer Dichter hatte sich der jüdischen Opfer angenommen, aller, es wirk
te wie ein Wunder. In seinem Gedicht waren es nicht mehr ihre Toten, die Toten der ewigen anderen, und es stand gedruckt in der Zeitung.
    »Jeder hier erschossene Greis / ich. Jedes hier erschossene Kind / ich.« Innerhalb eines Monats wurde das Gedicht in siebzig Sprachen übersetzt, ins Deutsche von Paul Celan, und Schostakowitsch vertonte im Adagio seiner dreizehnten Symphonie. Es schien, als wäre dieses Weltunglück nicht mehr obdachlos, als wäre die Ehre der Erinnerung wiederhergestellt worden.
    Nur nicht in Kiew. Erst sechs Jahre später wurde in Babij Jar ein kleiner Gedenkstein niedergelegt. Aber als jedes Jahr am 29. September Menschen mit Blumen zu dem Stein kamen, versuchte die Miliz, diese Aktionen, wie sie es nannte, zu verhindern. Mein Freund David und viele andere sind aus Kiew ausgewandert, nicht nur, weil ihnen das Leben in der Gegenwart schwergemacht wurde, sondern auch, weil ihnen ihre Vergangenheit, ihre Trauer, ihre Orte gestohlen worden waren. Einmal war David für 15 Tage verhaftet worden, als er Blumen bei einem Baum in Babij Jar hinterlassen hatte, »wegen Verletzung der öffentlichen Ordnung und Zerstreuung von Müll an einem öffentlichen Ort«.
     
    Es muss Hunderte, Tausende Menschen gegeben haben, die die Juden sahen, wie sie Ende September 1941 durch die Stadt zogen, es muss Zehntausende gegeben haben, die davon gehört hatten. Im Oktober wusste die ganze Stadt, was für eine »Umsiedlung« stattgefunden hatte, besonders als die Kleider und Wertsachen der Ermordeten an die deutsche Armee verteilt wurden. Als Kiew im Novem
ber 1943 befreit wurde, lebte nur noch ein Fünftel der Bevölkerung in der Stadt. Einige waren an der Front, viele auf der Flucht in die Tiefe des Landes, ein großer Teil war ermordet oder nach Deutschland deportiert worden. Wer sollte da von Babij Jar erzählen, und wem?
    Anatolij Kusnezow wuchs nicht weit von der Schlucht entfernt auf. Er war elf Jahre alt, als in unmittelbarer Nähe seines Elternhauses die Erschießungen geschahen. Nach dem Krieg studierte er Ballett und tanzte in der Kiewer Oper, aber Babij Jar ließ ihn nie mehr los, er konnte das Schweigen nicht aushalten. Jahrelang sammelte er alle Spuren des Geschehens, die er noch finden konnte und befragte Zeugen. 1966 veröffentlichte er das erste Buch über Babij Jar, und er hat viele Menschen durch die Schlucht geführt, auch den Dichter Jewgenij Jewtuschenko, um zu zeigen, dass es nichts mehr zu zeigen gibt, nur zu erzählen.
     
    Ich gehe von Denkmal zu Denkmal. Großmütter spazieren mit ihren Enkelkindern umher und schauen sich die Monumente an, oft nur, weil ich das gerade mache. Als die Ukraine vor zwanzig Jahren unabhängig wurde, bekamen mit der Zeit alle Opfergruppen ihr Monument: ein Holzkreuz für die ukrainischen Nationalisten, ein Denkmal für die Ostarbeiter, eines für zwei Mitglieder des geistlichen Widerstands, eine Tafel für die Zigeuner. Zehn Denkmäler, aber keine gemeinsame Erinnerung, sogar im Gedenken setzt die Selektion sich fort.
    Was mir fehlt, ist das Wort Mensch. Wem gehören diese Opfer? Sind sie Waisen unserer gescheiterten Erinnerung? Oder sind sie alle – unsere? Auf dem Hügel steht, wie ein verbrannter Baum, eine Menora, das erste jüdische Monu
ment für Babij Jar, eingeweiht fünfzig Jahre danach. Besonders quält mich eine Tafel, die Ende der achtziger Jahre angebracht worden ist, um Heldentum und Kühnheit der sowjetischen Menschen nun auch auf Jiddisch zu würdigen. Wie viele Menschen in dieser Stadt heute wohl noch Jiddisch lesen können? Zwanzig? Verschwinden die Sprachen von selbst? Oder richtet sich die Tafel direkt an Gott?
     
    In einer der großen Synagogen Kiews befand sich nach dem Krieg ein staatliches Puppentheater. Eine der Puppenspielerinnen des Theaters war Dina Pronitschewa, die sich am 29. September 1941 aus der Schlucht hatte retten können und später in vielen Prozessen als Zeugin auftrat. Das letzte Kapitel dieser Metamorphose, so scheint es mir, ist ein Puppentheater in einer Synagoge, wo eine Überlebende aus Babij Jar arbeitet.
     
    Ich gehe weiter an den Denkmälern vorbei in Richtung Kirill-Kirche, ich steige auf den Hügel, das Gebüsch wird wilder, die Menschen verschwinden, der Verkehrslärm des Prospekts ist nicht mehr zu hören. Links öffnet sich eine dicht bewachsene Steilwand, und ich sehe drei Gräber mit metallenen Kreuzen. Die ungenehmigten Gräber

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