Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
Vom Netzwerk:
als es hier noch keine U-Bahn gab, kamen wir von der anderen Seite nach Babij Jar, meine Eltern und ich. Erst schauten wir uns die Fresken in der Kirill-Kirche aus dem zwölften Jahrhundert an, das Jüngste Gericht, wie der Engel den Himmel aufrollt, und dann auch die Jugendstilfresken von Michail Wrubel, die Madonna mit ihrem viel zu schweren Blick und die Ausgießung des Heiligen Geistes auf die Apostel, für welche die Irren aus der nahe gelegenen Anstalt als Modell gedient hatten. Mit dieser geistlichen Polsterung gingen wir durch Babij Jar, und ich wusste nur sehr vage, was für ein Ort das ist, ich wusste nicht einmal, ob dieser Ort etwas mit meiner Familie zu tun hat und was für ein lebensbejahendes Ritual, so schien es mir, wir hier allein vollzogen. Ihre Großeltern lagen irgendwo hier, das haben meine Eltern mir viel später erzählt, ja und auch die schöne Ljolja. Meine Babuschka liegt auch in Babij Jar, erzählte mir mein Vater, sie hat es nur nicht bis hierher geschafft.
    Irgendwann kamen wir zum Monument, dem ersten und damals einzigen Denkmal, das 35 Jahre nach dem Massaker eingeweiht worden war, am falschen Ort und am falschen Tag. Muskulöse Sowjethelden – ein Matrose, ein Partisan und eine Ukrainerin – erobern die Vergangenheit. Die Wörter Heldentum , Mut , Vaterland , Kühnheit prallten von mir ab wie Pingpongbälle. Kein Wort davon, dass hier auch die Juden von Kiew liegen.
     
    Als sich im Sommer 1943 die Rote Armee Kiew näherte, mussten die dreihundert Kriegsgefangenen des benachbarten KZ Syrez Tag und Nacht die Toten ausgraben, Stapel von jeweils 2500 Leichen aufbauen, diese verbrennen und danach die Knochen zermahlen. Staub kann man nicht zählen. Die Menschen wurden gezwungen, die Spuren zu verwischen, und auch sie sollten danach ermordet werden, so dass diejenigen, die es gesehen hatten, auch verwischt würden und am Ende nichts bliebe, keine Spur, kein Mensch, keine Erzählung. Die Kriegsgefangenen ahnten ihr Schicksal und versuchten zu fliehen. Von den dreihundert überlebten höchstens vierzehn – die einzigen Zeugen.
     
    Nach dem Krieg führte man hier Untersuchungen durch, obwohl es kaum mehr etwas zu untersuchen gab, und Stalins antisemitische Politik machte rasch ein Ende damit. Autoren von Büchern wie dem Schwarzbuch über die Massenvernichtung der Juden , die Fakten sammelten und Berichte niederschrieben, wurden verfolgt, dann auch jüdische Ärzte, die man als Giftmischer beschuldigte. Die Erschießung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees war eine der letzten Aktionen Stalins. Unter den Mitgliedern des Komitees befanden sich auch Schriftsteller, die letzten, die noch auf Jiddisch schrieben.
    Hitler hat die Leser getötet und Stalin die Schriftsteller, so fasste mein Vater das Verschwinden der Sprache zusammen. Diejenigen, die den Krieg überlebt hatten, waren wieder in Gefahr. Juden, Halbjuden, Vierteljuden – man lernte wieder, die Prozente zu schmecken, so dass die Zunge am kalten Eisen anfror. Sie wurden als heimatlose Kosmopoli
ten stigmatisiert, vielleicht weil man sie ungeachtet aller Grenzen tötete, sie, die verbotene Beziehungen mit dem Ausland unterhielten und deswegen nicht zur großen Familie der sowjetischen Brudervölker gehören durften.
    Zwanzig Jahre lang gab es hier in Babij Jar keinen Hinweis auf die Massaker, kein Monument, keinen Stein, kein Schild. Dem Töten folgte das Schweigen.
     
    Wenn ich heute die majestätische Schlucht suche – vor dem Krieg zweieinhalb Kilometer lang, bis zu sechzig Meter tief und sehr steil –, kann ich sie nicht finden. Zehn Jahre lang hatte eine Ziegelfabrik ihren Abraum, Sand, Ton und Wasser, in die Schlucht gepumpt, die sowjetische Regierung wollte Babij Jar auch als Ort liquidieren. Doch 1961 brach ein Erddamm vor Babij Jar, eine Schlammlawine ergoss sich in die Stadt und tötete 1500 Menschen. Auch das wurde verschwiegen. Den Schlamm schaffte man nach Babij Jar zurück und füllte die Schlucht damit auf.
     
    Wenige Monate später wurde ein Gedicht von Jewgenij Jewtuschenko in der Literaturnaja Gazeta veröffentlicht.
     
    »Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal. / Ein schroffer Hang – der eine unbehauene Grabstein. / Mir ist angst. / Ich bin alt heute, / so alt wie das jüdische Volk. / Ich glaube, ich bin jetzt / ein Jude.«
     
    Die Menschen riefen einander an, erzählte meine Mutter, wir weinten vor Glück darüber, dass man über das Unglück nun endlich öffentlich sprach. Ein

Weitere Kostenlose Bücher