Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
Vom Netzwerk:
von Babij Jar. Auf einem steht: »Auch hier wurden 1941 Menschen erschossen. Gib ihren Seelen Ruhe!«
    Nie zuvor habe ich ein Grab mit der Aufschrift »Auch hier« gesehen. Jetzt bin ich angekommen in Babij Jar. Ich stehe im Wald, oben auf einem Baum hängt ein Trauerkranz. Wer hat ihn hierher gebracht? Wachsen hier auf den Bäumen Kränze? Sollte man Babij Jar verwildern lassen? Tiere und Pflanzen?
    Plötzlich dringt ein heller, metallischer Klang durch, und ein überraschendes Bild öffnet sich vor meinen Augen. Dutzende junger Menschen in reich verzierten schweren Gewändern spielen auf einer von goldenem Laub leuchtenden Lichtung Tolkiens Herr der Ringe nach. Kein Weg führt hierher. Ich frage den Herrn der Ringe, wie ich hier herauskomme, in Richtung Kirche, und er sagt, Engel wird dir helfen. So heißt der Junge, der mich begleitet. Wir versinken bis zu den Knien im Laub, sehen ein paar überwucherte Grabsteine, mit russischen oder hebräischen Buchstaben. Irgendwann hat es hier Friedhöfe gegeben, den alten jüdischen, den russischen Soldatenfriedhof und den Karäer-Friedhof, nach dem Krieg wurden sie demoliert, auf einem Teil der riesigen Fläche stehen heute ein Fernsehturm und ein Fernsehstudio. Ein paar Gräber liegen immer noch verstreut, die Grabsteine, als würden sie einem inneren Wachstum folgen, lugen aus der Erde wie Pilze. Wir gehen auf einem gesperrten Weg, und es ist, als würden wir etwas Verbotenes tun, uns gegen den Lauf der Zeit bewegen, in Richtung psychiatrische Anstalt und auf die Kirche zu, in der ein Engel den Himmel ausrollt, und als ich meinen Engel vorsichtig frage, wo wir uns befinden, sagt er, früher war hier Babij Jar.
    Riva, Rita, Margarita
    Als ich klein war, ging meine Großmutter Margarita, die Mutter meines Vaters, die wir Rita nannten, obwohl sie ursprünglich Rebekka hieß, kurz also Riva, auf den Balkon unserer Kiewer Wohnung im siebten Stock, blickte in die Ferne, über die Bäume, über den Kanal auf die künstliche Insel mit ihren Plattenbauten und rief Hilfe! Die Faschisten wollen mich töten! Je älter sie wurde, desto mehr Faschisten waren es, und irgendwann waren nur noch Faschisten um sie herum, sie war vom engsten Familienkreis umzingelt, und auch wir waren zu Faschisten geworden.
     
    Ich wollte nicht von ihr erzählen, da ich ihre hellen Momente nicht erlebt habe und spüre, dass ich mit jedem Blick in ihre Richtung einen Schleier höher emporhebe, den man lieber fallen lassen würde, denn dahinter wohnt ein schwarzer, erstarrter Wahnsinn, das Intimste überhaupt. Aus Rücksicht auf die anderen Schweigenden darf ich nicht erzählen, wie qualvoll, an ihr verhasstes Leben sich klammernd, sie gestorben ist, als ich sieben Jahre alt war.
     
    Wenn mein Vater von seiner Mutter erzählte, sagte er, dass sie sehr schöne dunkelblonde Haare hatte, in großen Wellen gerollt und, ja, ungewöhnlich schön, wiederholte er, weißt du, sie hatte so eine Welle, die – und er strich sich über sein eigenes Haar – über den Kopf läuft, allen Gedanken zum Trotz, – er trug eine ähnliche Welle auf dem Kopf. Er bemühte sich immer, etwas Gutes über sie zu sagen, und
er sagte es, und das war schön, aber ich spürte seine Mühe und auch, wie schwer es ihm fiel, über sie zu reden.
     
    Anfang der zwanziger Jahre, als Rita in Charkow wohnte und das ganze Leben noch vor sich hatte, wollte sie in die Partei eintreten. Sie hatte eine Empfehlung von Wjatscheslaw Molotow, ihrem Nachbarn, bekommen. Sie lebten für kurze Zeit Tür an Tür im selben Treppenhaus, aber damals ahnte noch niemand, dass Molotow überall in der Welt bekannt werden würde, zusammen mit Ribbentrop und ihrem Pakt. Von meiner Großmutter dagegen ist nichts bekannt, sie hat keine historischen Spuren oder große Taten hinterlassen, nichts außer uns. Ihre Unbekanntheit und ihr Wahnsinn sind mir jedoch lieber als seine Spaltung Europas, der grelle Klang seines Namens.
     
    Rita hatte ab und zu in Berufsschulen Kinder unterrichtet, meistens im ideologischen Bereich. Sie war streng und ungerecht, sagte mein Vater einmal, und ich weiß, dass ihm ihre Ungerechtigkeit und ihre Macht über die Schüler wehtaten, denn seine Mutter möchte man einfach lieben, und für ihn war das nicht leicht. Sie war besorgt, alarmiert und kränklich, und ich wusste, dass sie schon immer besorgt, alarmiert und kränklich war, nicht erst nach dem Krieg, sondern auch schon vorher.
     
    Vielleicht wurde Ritas Verrücktheit durch etwas

Weitere Kostenlose Bücher