Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
Vom Netzwerk:
ausgelöst, auch das hat man mir erzählt, was sie als Kind gesehen hatte. Ihr Bruder wurde 1905 als Säugling im Pogrom von Odessa getötet, mit dem Kopf gegen die Wand. Sie war sieben Jahre alt und soll das gesehen haben. Warum sie über
lebt hat, weiß heute niemand mehr, vielleicht wurde sie mit dem flüchtigen Gedanken am Leben gelassen, dass das Wichtigste nicht der Tod sei, sondern die Macht über die menschliche Seele. Ich weiß nicht, wer mir diese Geschichte erzählt hat, und ich weiß auch nicht, ob diese Geschichte stimmt, denn ich kann sie mir nicht vorstellen, aber wenn es diese Geschichte gibt, dann könnte es eigentlich nur mein Vater gewesen sein, der sie mir erzählt hat, aber noch weniger kann ich mir vorstellen, wie er diese Geschichte erzählt, und so habe ich es später niemals gewagt, ihn zu fragen, ihn mit der Wiederholung zu quälen, mit dem Tod des Kindes. Diese Geschichte hat in mir eine Schwingung ausgelöst, doch sie ist so vage, als sei sie aus dem Zusammenspiel von kranker Einbildungskraft und schwachem Gedächtnis entstanden. Und womit, wenn nicht damit, lässt sich die historische Wahrhaftigkeit dieses Geschehens beweisen?
     
    Aber damals, als ich noch nicht sieben Jahre alt war und nichts von Rebekka und Riva wusste, sondern nur von meiner Großmutter Rita, Margarita, schloss ich ihren Namen nicht in die große dunkle Vergangenheit ein, sondern in meine eigene kleine Welt. Für mich war sie Rita, Margarita, Margaritka, eine Blume, ein Gänseblümchen, und die wuchsen überall.
    Anna und Ljolja
    Als meine Urgroßmutter Anna und meine Großtante Ljolja in der dichten Menschenmenge auf der Bolschaja Shitomirskaja gingen, lief ihre Haushaltshilfe Natascha ein Stück mit. Sie weinte unaufhörlich, und Anna tadelte Natascha für ihre Tränen, beruhige dich, zu den Deutschen hatten wir schon immer gute Beziehungen. Als Natascha nach dem Krieg meine Großmutter Rosa fand, Annas Tochter, erzählte sie ihr von diesem letzten, verstörenden Satz von Anna.
    Ich fragte meine Mutter, warum ihre Großmutter Anna in Kiew geblieben sei. Sie habe das Grab ihres Ehemanns Ozjel nicht verlassen wollen, sagte meine Mutter voller Gewissheit, und dann fügte sie etwas weniger überzeugt hinzu, Anna habe gedacht, es gäbe keine Notwendigkeit zu fliehen, oder vielleicht sei sie zu alt für eine Flucht gewesen, sagte meine Mutter, und eigentlich wisse sie nicht genau, warum.
    Anna wurde in Babij Jar umgebracht, obwohl meine Eltern nie umgebracht sagten. Sie sagten, Anna liegt in Babij Jar, als ob durch dieses Liegen die Seelen von Anna und meinen Eltern ihre Ruhe finden könnten und auch die Frage nach den Urhebern aufgehoben wäre. Es war ihnen peinlich, nach Urhebern zu fragen, denn sie wollten niemandem böse sein, sie konnten niemanden hassen. Für sie trug das Geschehen mythische Züge, es war für uns Menschen nicht mehr erreichbar, eine unbestreitbare Begebenheit, die keine Überprüfung gestattete.
    Mein Bild von Anna ist aus fremden, nicht zueinander pas
senden Fäden gewebt. Ich wusste nur, dass Anna in Łódź geboren wurde, als Tochter eines Müllers, Schuberts schöne Müllerin, dachte ich, und ich wusste auch, dass ihre Geschwister in Łódź und anderswo in der Textilindustrie tätig waren und dass sie es zu Wohlstand gebracht hatten. Anna dagegen hatte im fernen Kiew ihr Leben lang im riesigen Haushalt von Ozjels Taubstummschule gearbeitet, sie unterrichtete und half in den Werkstätten, sie war immer in Bewegung und machte alles, was gemacht werden musste für die Kinder. Sogar auf dem Foto, das Natascha über den gesamten Krieg hinweg aufbewahrt hat, trägt Anna eine Schürze. Das Bild ist kein Schnappschuss, Anna nimmt eine Pose ein, als hätte sie sich schön gemacht, ihr Blick stolz und fordernd.
    Anna wusste genug, um ihre eigenen Worte von den guten Beziehungen zu den Deutschen nicht zu glauben, schließlich hatte sie, als der Zweite Weltkrieg ausbrach, Pakete ins besetzte Warschau geschickt und bis ins Jahr 1941 auch Briefe von dort erhalten. Wen wollte sie mit diesen guten Beziehungen trösten, beschämen oder täuschen? Meine Tante Lida war dreizehn Jahre alt, als sie ihre Großmutter Anna zum letzten Mal sah, und sie verbrachte einen großen Teil ihres Lebens in einer ähnlichen Schürze. Sechzig Jahre nach Annas Tod, als Lida selbst alt und krank war, sagte sie plötzlich, ich gehe zu Babuschka Anna, als würde sie unaufhörlich an Anna denken, obwohl sie nie von ihr sprach.

Weitere Kostenlose Bücher