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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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Vielleicht trug Lida ihre Schürze in memoriam? Alle waren von Lidas Satz erschüttert, es war ein Hauch von dort, und sie verstanden, dass Lida aufgab, aber gleichzeitig hatte sie eine Wahl getroffen, sie wollte gehen, so wie auch Anna eine Wahl getroffen hatte, als sie in Kiew blieb.
Lida glaubte nicht an Annas Schicksalsergebenheit. Taubstummenlehrer könnten sich keine Ergebenheit leisten, soll Lida einmal gesagt haben. Sie meinte vielleicht, es war Annas Stolz. Der Stolz einer Lehrerin, die daran glaubte, Menschen verwandeln zu können, im Krieg wie im Frieden, eine Überheblichkeit vielleicht, der Glaube, dass sie, Anna Levi-Krzewina, wenn nicht den Einmarsch, dann zumindest die Eskalation verhindern könne, nicht durch eine Heldentat, sondern durch Missbilligung oder durch Unglauben oder durch das schlichte Ignorieren von Gewalt. Sie war zu stolz, um vor dem Feind zu fliehen, ihm den Rücken zuzukehren, sie blieb, um dem Feind ihre Würde zu zeigen und ihn dadurch vielleicht umzuerziehen, als ob, wenn sie bliebe, wenn sie nicht an das Böse im Menschen glaubte, wenn sie sich weigerte, an das Böse im Menschen zu glauben, besonders an das Böse in den Deutschen, dann auch die Deutschen an ihre guten Beziehungen zu Anna Levi-Krzewina glauben würden und nicht an das Böse in sich selbst, als ob, wenn schon sie selbst daran glaubte oder zumindest so tat, dann auch jene daran glauben oder so tun würden, Anna und die Deutschen, sozusagen gegenseitig, denn wenn diese Frau vor lauter Würde keine Angst hatte, dann durfte man auch keine Gründe für die Angst erschaffen, denn wie hätte ihr Gegenüber ein so großzügiges Angebot ablehnen können? Anna hatte die unbesiegbare deutsche Armee zu einem Duell herausgefordert, die Deutschen aber erkannten ihre Waffe nicht. War ihr der Stolz wichtiger als das Überleben? Oder dachte sie, dass nur Verlierer ihre Ehre behalten könnten, Verlierer im militärischen Sinne natürlich, in dieser Stunde, als sie jeglicher Würde beraubt wurden, oder
wollte sie nicht weiterleben, weil es, wenn so etwas passieren konnte, keine Ehre mehr gab?
     
    Auch Ljolja, die jüngere Schwester meiner Großmutter Rosa, liegt in Babij Jar. Warum hat Anna ihre Tochter nicht dazu überredet, die Stadt zu verlassen? Ljolja hieß eigentlich Elena, die schöne Ljolja wurde sie genannt, gewiss um den Vergleich mit der schönen Helena zu vermeiden, denn für diese waren Kriege geführt worden, und die Meinigen waren schon immer dagegen gewesen. Ljolja ist nicht nur wegen ihrer Mutter in Kiew geblieben, das übliche Schicksal eines jüngsten Kindes, nein, sie war schon dreißig und verheiratet, und ihr Mann Wladimir Grudin, viel älter als sie, Professor am Konservatorium, ein Komponist, der Schallplatten mit Puschkin-Vertonungen herausbrachte und ein Ballett Alice im Wunderland geschrieben hatte, Wladimir hatte genug von der Sowjetmacht, so wurde mir erzählt, er war der Überzeugung, dass es besser würde, wenn die Deutschen kämen. Trotz seiner Liebe zu Gustav Mahler, der längst aus den deutschen Konzertsälen verbannt war, glaubte er, dass es unter den Deutschen besser werden würde, denn schlechter konnte es einfach nicht werden. Und Ljolja, die verträumte Prinzessin, glaubte ihm, so wie viele Menschen damals glaubten, unter der einen oder der anderen Macht, dass der Krieg bessere Zeiten bringen würde für den Alltag, für die Arbeit und die Musik. Ljolja war Pianistin, sagte mir die eine, aber sie hat auch genäht, sagte mir ein anderer, sie arbeitete sogar in einer Bekleidungsfabrik. Wladimir wollte nicht, dass sie arbeitete, oder wollte er nicht, dass sie spielte? Sie lebten in guten Verhältnissen auf der Bolschaja Shitomirskaja, nur
drei Häuser von Anna entfernt, sie hatten keine Kinder, dafür einen mächtigen Flügel sowie ein Klavier, viele Katzen und viele Kissen auf den Sofas. Nur ein einziges Mal habe ich ein Foto von Ljolja gesehen, wie sie sich an einem schmalen, funkelnden Fluss übers Wasser beugt, als ob sie sich in eine nicht ganz klare Bewegung begeben hätte, graziös und ungeschickt zugleich, und die Lichtflecken der Sonne, die auf der Wasserfläche spielten, so erinnere ich mich, schienen nicht nur sie zu blenden, sondern auch mich.
    Ich hatte während der ganzen Kindheit Angst vor dem Klavier, das als Kriegsbeute nach Kiew gekommen war und in den sechziger Jahren in unserer Familie gestrandet ist. Es stand wie ein unbekanntes Objekt aus fremden Welten in meinem Zimmer, mit

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