Vielleicht Esther
der Aufschrift »Kaiserlicher Hoflieferant C. Hoffmann« in goldenen Buchstaben. Mit jeder Klavierstunde versank ich tiefer in den Fluss einer unerklärlichen, immer weiter ansteigenden Angst, und irgendwann hörte ich mit dem Unterricht auf.
Mit siebzehn ließ ich eine Tasse fallen, und meine Tante Lida, die mich durch dieses Ungeschick auf ihrer Lebensoberfläche bemerkte, sagte, du bist wie Ljolja. Ich wusste damals schon, wer Ljolja war, und ihre Bemerkung lähmte mich so, dass ich Lida nicht zu fragen wagte, was sie mit ihrem Wie Ljolja gemeint habe.
Als die Anzeigen für Saemtliche Juden damals an die Mauern der Stadt geklebt wurden, verschwand Wladimir Grudin. Er kam tagelang nicht nach Hause, und manche sagten, er habe sich in der Kommandantur um eine Erlaubnis für Ljolja bemüht, um ihre »Umsiedlung« zu verhindern.
Meine Großmutter Rosa, Ljoljas Schwester, glaubte nicht daran, wenn sie mir auch nie gesagt hat, dass sie es für eine Lüge hielt, aber ich spürte, dass sie ihm nie verziehen hat. Wladimir verschwand und tauchte Jahre später in den USA wieder auf. Er lebte noch vierzig Jahre, und meine Großmutter Rosa meinte ihren Schwager sogar im Radio gehört zu haben, in Voice of America . Ljolja aber wartete, sie wartete auch noch, als sie mit ihrer Mutter die Bolschaja Shitomirskaja entlang bis zur Schlucht ging. Aber vielleicht ist Wladimir auch an nichts schuld. Doch warum sagte meine Großmutter manchmal Alles, nur nicht Mahler , als würde sie um Gnade bitten? Es war unheimlich, wie schnell sie Mahler erkannte, als eine Gefahr, als etwas Alarmierendes, reflektorisch klappte sie jedesmal zu wie eine Muschel, als wäre Mahler an allem schuld, als wäre Mahler ein Zeichen. Es war ein falsches Ergebnis, das am Ende einer ganzen Reihe von unverbesserlichen Fehlern stand. Es war ein Fehler der Deutschen, Mahler zu verbieten und Annas Waffen nicht zu erkennen, es war ein Fehler von Wladimir Grudin, den Deutschen vertraut zu haben, und es war ein Fehler von Ljolja, Wladimir zu glauben, dass alles gut werde, und zu bleiben und auf ihn zu warten.
Vor ein paar Jahren rief an einem Tag im April Lidas Tochter Marina meine Mutter an, um ihr zum Geburtstag ihres Sohnes zu gratulieren, also meines Bruders, denn bei uns ist es Tradition, den Eltern zu den Geburtstagen ihrer Kinder zu gratulieren, auch wenn diese längst erwachsen sind und weit entfernt wohnen. Sie gratulierte ihr und fügte hinzu, ich gratuliere dir zu drei Geburtstagen. Über zwei
wusste meine Mutter Bescheid, ihr Sohn und ihr Enkelsohn sind am gleichen Tag geboren, lustig genug, aber der dritte? Ljolja, sagte Marina, Ljolja wurde auch heute geboren. Niemand von uns hat sich jemals dafür interessiert, wann diese Frau, die so jung umgekommen ist, Geburtstag hatte. Meine Großmutter Rosa, Ljoljas Schwester, hat es niemals erwähnt, nicht einmal als ihre eigene Tochter, meine Mutter, genau an diesem Tag ihr erstes Kind zur Welt brachte. Auch meine Tante Lida hatte es meiner Mutter nie gesagt, obwohl sie ihr ganzes Leben lang über diesen Geburtstag Bescheid gewusst hat und auch über den unheimlichen Zufall der drei Geburtstage, als bildeten sie ein mnemonisches Prinzip. Irgendwann muss Lida ihrer Tochter Marina davon erzählt haben, doch warum sprach Marina siebzig Jahre nach Ljoljas Tod zum ersten Mal davon, als ob nach siebzig Jahren auch die metaphysischen Archive geöffnet worden wären, und was bedeutet es, dass Marina, die vom Judentum nichts mehr weiß, meiner Mutter ausgerechnet an jenem Tag zu den drei Geburtstagen gratulierte, als Shlomo, der Sohn meines Bruders, der dritte in der Geburtstagskette, vor seiner Bar-Mitzwa stand und damit, so sagt es die Tradition, als Erwachsener Verantwortung für sich selbst und seine Sippe übernehmen sollte? Als ob der Geburtstag einer Frau, die als Jüdin umgebracht worden war, obwohl sie nichts Jüdisches mehr an sich hatte, und die ohne Kinder starb, im Geburtstag eines Jungen, dessen Familie zum Judentum zurückgekehrt ist, einen Nachhall gefunden hätte.
Arnold im Hemd
Arnold war der Glücklichste von allen, man sagte, er sei im Hemd geboren. Alles, was man über ihn erzählte, glich einer Fabel. Als Kind fiel er aus dem Fenster, doch er überlebte. Wegen einer schweren Krankheit wurden ihm zwei Rippen wegoperiert, doch er blieb am Leben und wurde sogar gesund. Ständig passierten ihm Unfälle und Missgeschicke, aber er kam immer unbeschadet davon. Mir wurden endlose Szenarien
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