Vielleicht Esther
und er war geschäftstüchtig, jedenfalls wenn es um die Ge
schäfte anderer ging. Wie geschickt er im Handeln und Geschäftemachen war, wenn es um seine eigenen Interessen ging, zeigt der Namenswechsel, den er aus Sorge wegen des stärker werdenden staatlichen Antisemitismus der Nachkriegsjahre unternommen hatte, indem er seinen Namen Abram gegen Arnold tauschte, obwohl dieser Name kaum weniger jüdisch klang, vielleicht etwas nobler und dezenter, ja sogar ein wenig wienerisch, aber es gab keine anderen, die Arnold hießen, außer Juden. Wie in dem Witz von Abrascha, der für zehn Rubel ein Ei kauft, es kocht und für zehn Rubel wieder verkauft, und, als er nach dem Gewinn gefragt wird, antwortet: Und die Brühe?
Am Ende seines Lebens heiratete er zum dritten Mal und bewies noch einmal sein Glück, denn selbst die strenge Ida, die immer wollte, dass man spart und alles ist in Ordnung, konnte ihm sein Glück nicht verderben. Sie hieß mit vollem Namen wie seine erste Frau, Sinaida, kochte unvergleichlich gut und schenkte mir jedes Jahr zu meinem Geburtstag eine Schachtel Eclairs in Form von Schwänen, damit auch bei uns an diesem Tag alles in Ordnung war. Meine Cousine Marina sagte immer, sie ist ja noch okay, aber ihre Verwandten! Die waren wie aus dem Bilderbuch, gierig, laut und aggressiv nach allen Seiten.
Als Arnold starb, kam das ganze taubstumme Kiew zu seiner Beerdigung. Hunderte, Tausende taubstummer Menschen, die friedlich und ruhig aussahen, es war so still, wie es zwischen Menschen ist, die sich nur durch Blicke miteinander verständigen können. Ihre Taubstummheit schien nur ein Vorwand zu sein für eine verborgene Begräbnis-Pantomime, als wären sie kurz davor, in einen Tanz auszu
brechen. Arnold war ihr Held, ihr König und ihr Clown, und wenn er dabei war, konnte es nicht schlecht ausgehen.
Vielleicht Esther
Lasse der Herrgott dich so viel wissen, wie ich nicht weiß, sagte Babuschka immer wieder. Sie wiederholte den Satz leicht beleidigt, aber auch stolz. Ihr Enkel Marik, mein Vater Miron, war ungewöhnlich belesen. Bis zu seinem neunten Lebensjahr hatte er bereits Hunderte von Büchern verschlungen und stellte den Erwachsenen, wie er dachte, ganz einfache, elementare Fragen. Babuschka wusste meistens keine Antwort. Auch den Ausspruch von Sokrates, ich weiß, dass ich nichts weiß, kannte sie nicht. Vielleicht wollte sie mit ihrem Satz sich selbst trösten oder ihren klugen Enkel zurechtweisen, denn Babuschka beharrte auf ihrer Devise, die nach einem antiken Aphorismus klang, lasse der Herrgott dich so viel wissen, wie ich nicht weiß.
Außer diesem Spruch sind von meiner Urgroßmutter, der Babuschka meines Vaters, nur noch zwei Dinge geblieben: eine Fotografie und eine Geschichte.
Als die Familie im August 1941 vor der deutschen Armee aus Kiew floh und mein Großvater Semjon an die Front musste, blieb Babuschka allein zu Hause in der Engelsstraße, einer Straße, die steil auf den Prachtboulevard Krestschatik hinabführte.
Babuschka wurde nicht mitgenommen. Sie konnte sich
kaum noch bewegen, und während des ganzen Kriegssommers hatte sie es nicht geschafft, die Treppe hinunter und auf die Straße zu gehen. Sie mitzunehmen war ausgeschlossen, sie hätte den Weg nicht durchgehalten.
Die Evakuierung erinnerte an einen Datscha-Ausflug, und Babuschka wurde mit dem Gedanken zurückgelassen, dass sich alle wiedersehen würden, wenn der Sommer vorüber wäre. Der Juli forderte den Wechsel, und all diese Menschen auf der Straße trugen Koffer und Bündel, wie immer im Sommer, nur die Eile und dass es zu viele waren, verrieten, dass das Geschehen trotz der passenden Jahreszeit und der üblichen Habseligkeiten nichts, aber auch gar nichts mit einem Datscha-Ausflug zu tun hatte.
Ich glaube, sie hieß Esther, sagte mein Vater. Ja, vielleicht Esther. Ich hatte zwei Großmütter, und eine von ihnen hieß Esther, genau.
Wie, vielleicht?, fragte ich empört, du weißt nicht, wie deine Großmutter hieß?
Ich habe sie nie bei ihrem Namen genannt, erwiderte mein Vater, ich sagte Babuschka, und meine Eltern sagten Mutter.
Vielleicht Esther ist in Kiew geblieben. Sie bewegte sich in der plötzlich leer gewordenen Wohnung mit Mühe, das Essen brachten die Nachbarn. Wir dachten, fügte mein Vater hinzu, wir kämen bald zurück, aber wir sind erst nach sieben Jahren zurückgekommen.
Anfangs änderte sich in der Stadt nichts Grundlegendes. Es waren einfach die Deutschen gekommen. Als
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