Vielleicht Esther
von Arnolds Überleben erzählt, alle nach demselben Muster, die Geschichten seiner Rettung, die immer damit begannen, dass Arnold schon unter dem Galgen stand. Ich stellte mir Arnold und den Galgen vor, doch der Galgen passte nicht zu diesem rothaarigen, sommersprossigen, schalkhaften Arnold. Dann hörte man Trommeln, oder nein, der Henker krempelte seine Ärmel hoch, und dann hörte man die Trommeln wirklich, er sollte niederknien, oder, nein, nein, er wurde zur Erschießung geführt, es war im Krieg in einem ukrainischen Dorf, wo niemand wusste, dass er Jude war, er hatte als Metzger gearbeitet und schlechtes Fleisch verkauft, oder er war Schuster, und auch nach der Reparatur quälte der Nagel im Schuh, oder er war ein Revolutionär, Partisan, Rebell, oder Arnold wurde verraten und zur Erschießung geführt, mehr als einmal, als wäre es möglich, mehrmals erschossen zu werden, Menschen mit Gewehren führen Arnold ab, sie in schwarzen Umrissen und er wie ein verirrter Clown, wie sie sich in Richtung Wald begeben, das sieht so grotesk aus, beinahe lustig, dass es gar nicht schlecht ausgehen kann, und, ja, in diesem Moment stürmt
unsere Armee in die Stadt und befreit sie, von den Deutschen, von den Weißen, von den Fremden, befreit Arnold und befreit Abrascha und befreit Abram, ein und derselbe Mensch, mein Großonkel, der Bruder von Rosa und Ljolja, denn so hieß er eigentlich, Abram, Abrascha. Als ich klein war, konnte ich nicht einordnen, welcher Krieg da draußen getobt hatte, welche Armee es gewesen war, die Rote oder die Weiße, die in die Stadt hineinstürmte, man sagte immer unsere, ja, aber ich verstand nicht, ob es schon unsere heldenmütige sowjetische Armee war oder unsere von früher, die Rote, Weiße, zaristische, und auf welcher Seite Arnold stand und wer ihn da hinzurichten versuchte. Arnold schien mir durch alle Kriege hindurch gerettet zu werden, erst später habe ich seine Rettungen in der richtigen Zeit und im richtigen Krieg plaziert, und noch später habe ich verstanden, dass Arnold Jude war oder als Jude galt und dass alles, was damals mit ihm und mit ihnen passierte, damit zu tun hatte. Dass er irgendwann Abram geheißen hatte, habe ich erst vor kurzem erfahren. Mein ganzes Leben wäre anders verlaufen, komischer, aber auch jüdischer, so glaube ich heute, wenn ich von Anfang an gewusst hätte, dass wir einen Abrascha in der Familie hatten, ein Name, den ich nicht aus dem Leben, sondern nur aus Witzen kannte, die so endlose Folgen erzeugten wie Arnolds Überlebensfabeln, und vielleicht gab es diese Fabeln überhaupt nur wegen der Witze.
Als der Krieg näher rückte, wollte Abram aus Kiew fliehen, aber er war zu lange damit beschäftigt, die Evakuierung des Taubstummenvereins zu organisieren, und danach blieb ihm weder Zeit noch ein Fahrzeug, um seine eigene Familie und sich selbst in Sicherheit zu bringen.
Als der Befehl an Saemtliche Juden bekanntgegeben wurde, tauchte er in der Nähe von Kiew unter und überlebte den Krieg mit Hilfe ukrainischer Bauern in Verstecken auf dem Land. Manchmal gab er sich als Handwerker aus und suchte Arbeit in Dörfern, in denen niemand wusste, dass er Jude war. Seine russische Frau Sinaida und der dreijährige Sohn Tolja waren zu Hause im besetzten Kiew geblieben. Vielleicht wusste er nicht, dass die Rettungen nur ihm galten, deshalb kam er ab und zu nachts nach Hause und brachte Lebensmittel aus den Dörfern mit. Die Nachbarn zeigten Sinaida bei der Polizei an und behaupteten, sie stehe mit Partisanen im Kontakt, oder sie sagten, sie verberge ihren jüdischen Ehemann. Wahrscheinlich waren es Nachbarsjungen, die eifersüchtig darauf waren, dass Sina den jüdischen Abrascha geheiratet hatte, und als Abrascha weg war, hatten sie wieder versucht, ihr den Hof zu machen. Sinaida wurde verhaftet und noch in der Nacht erschossen, so sagten einige, andere sagten, sie sei von der Gestapo gefoltert worden. Als die Polizei zu Sinaida kam, spielte der kleine Tolja auf der hinteren Seite des Hauses im Garten, er hatte das Glück, auf der falschen Seite des Hauses zu spielen, vielleicht hatte er das Überleben von seinem Vater geerbt. Die Nachbarin Marusja nahm ihn zu sich und zog den Jungen während des Krieges auf, bis Abram zurückkam.
Nach dem Krieg arbeitete Arnold sein ganzes Leben lang mit Taubstummen, als Sportlehrer, als Hausmeister oder als Verwalter des Vereins, und alle liebten ihn. Er hatte eine Warmherzigkeit, wie es sie sonst nur im Märchen gibt,
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