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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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natürlich, erst post factum, wenn man weiß, was danach passiert ist, aber wirklich gerechtfertigt wird das, was passiert ist, dadurch trotzdem nicht, also, die, die geblieben waren, wurden in Babij Jar zusammengetrieben, oder wie meine Mutter zu schreiben pflegt, in BJ , als ob alle wüssten, was BJ bedeutet, oder als ob sie diesen Ort wirklich, und ich meine wirklich, nicht beim vollen Namen nennen könnte. Und dort wurden sie erschossen. Aber das wissen Sie bestimmt. Kiew ist von hier genauso weit entfernt wie Paris.
     
    Und jetzt weiß ich, wozu ich meinen Fikus brauche.
     
    –  Papa, du hast den Fikus vergessen.
    –  Welchen Fikus? Ich erinnere mich an keinen Fikus. Koffer, Bündel, Säcke, Kisten. Aber ein Fikus?
    –  Papa, aber du hast mir doch von dem Fikus erzählt, der vom Lastwagen wieder heruntergenommen wurde.
    –  Was für ein Fikus? Ich erinnere mich nicht daran. Vielleicht habe ich das vergessen.
     
    Ich war auf den Fikus fixiert, ich war fikussiert. Ich verstand nicht, wie man so etwas vergessen kann. Ich verstand nicht, was jemandem passiert sein musste, um so etwas zu vergessen.
     
    Der Fikus scheint mir die Hauptfigur, ja, wenn nicht der Weltgeschichte, dann meiner Familiengeschichte zu sein. In meiner Fassung hat der Fikus das Leben meines Vaters gerettet. Doch wenn selbst mein Vater sich nicht mehr an den Fikus erinnern kann, dann hat es ihn vielleicht tatsächlich nicht gegeben. Als er mir von der Evakuierung erzählte, habe ich in meinem Bild möglicherweise die fehlenden Details in die Lücken des Straßenraums eingefügt.
     
    Gab es den Fikus, oder ist er eine Fiktion? Wurde die Fiktion aus dem Fikus geboren – oder umgekehrt? Vielleicht werde ich nie feststellen, ob der Fikus, der meinen Vater gerettet hat, überhaupt irgendwann existierte.
     
    Ich rufe meinen Vater an, und er tröstet mich.
     
    –  Sogar wenn er nicht existiert hat, sagen solche Fehlleistungen manchmal mehr aus als eine penibel geführte Bestandsaufnahme. Manchmal ist es gerade die Prise Dichtung, welche die Erinnerung wahrheitsgetreu macht.
     
    So wurde mein fiktiver Fikus als literarischer Gegenstand rehabilitiert.
     
    Noch keine Woche war vergangen, als mein Vater zu mir sagte: Ich glaube, ich erinnere mich an einen Fikus. Vielleicht. Oder habe ich den Fikus jetzt von dir?
     
    Wenn mein Großvater diesen fragwürdigen Fikus nicht von der Ladefläche heruntergenommen hätte, hätte der neunjährige Junge, der später mein Vater wurde, keinen Platz in der Arche des Lastwagens bekommen, wäre er nicht auf der Liste der Überlebenden gelandet, würde ich nicht existieren. Da es keinen Fikus gegeben hat, es uns aber gibt, bedeutet dies, dass es ihn doch gegeben hat, oder auf jeden Fall muss es ihn gegeben haben, denn wenn es ihn nicht gegeben hätte, gäbe es kein uns, wir hätten uns nicht retten können, ich sage wir und meine meinen Vater, denn wenn mein Vater nicht gerettet worden wäre, wie hätte er sich an den Fikus erinnern können, und wie hätte er zuvor diesen Fikus vergessen können? Es hat sich also herausgestellt, oder es könnte sich herausstellen, dass wir unser Leben einer Fiktion verdanken.
     
    Cherr Offizehr, begann Babuschka mit ihrem unverkennbaren Anhauch, überzeugt davon, sie spreche Deutsch, zeyn Zi so fayn, sagen Sie mir, was zoll ick denn machen? Ikh hob di plakatn gezen mit instruktzies far yidn, aber ich kann nicht so gut laufen, ikh kann nyscht loyfn azoy schnel.
     
    Sie wurde auf der Stelle erschossen, mit nachlässiger Routine, ohne dass das Gespräch unterbrochen wurde, ohne sich ganz umzudrehen, ganz nebenbei. Oder nein, nein. Vielleicht fragte sie, seien Sie so nett, Cherr Offizehr, sagen Sie bitte, wie kommt man nach Babij Jar? Das konnte doch wirklich lästig sein. Wer mag das schon, auf dumme Fragen antworten müssen?
     
    Ich beobachte diese Szene wie Gott aus dem Fenster des gegenüberliegenden Hauses. Vielleicht schreibt man so Romane. Oder auch Märchen. Ich sitze oben, ich sehe alles! Manchmal fasse ich mir ein Herz und komme näher heran und stelle mich hinter den Rücken des Offiziers, um das Gespräch zu belauschen. Warum stehen sie mit dem Rücken zu mir? Ich gehe um sie herum und sehe nur ihre Rücken. Sosehr ich mich bemühe, ihre Gesichter zu sehen, in ihre Gesichter zu blicken, von Babuschka und von dem Offizier, sosehr ich mich auch strecke, um sie anzuschauen und alle Muskeln meines Gedächtnisses, meiner Phantasie und meiner Intuition

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