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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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wurden uns diese Syllogismen eingebleut, man konnte sich nicht wehren, so klassisch schienen diese für die Ewigkeit geschliffenen Sätze, und wer nicht für uns ist, ist gegen uns, wobei der Staat uns nicht darüber aufklärte, dass es seine Schuld war, dass die Soldaten keine Munition hatten, dass sie mit veralteter Technik kämpften und dass es unsere großen Strategen waren, die die Einkesselung ihrer Millionenarmee zuließen.
     
    Zwischen dem Kessel bei Kiew und dem Sessel in unserer Wohnung öffnete sich ein schwarzes Loch.
    Mittagspause in Mauthausen
    Es ist 9 Minuten vor 12, als ich in Mauthausen anrufe, früher Konzentrationslager, heute Gedenkstätte. Lange nimmt niemand den Hörer ab. In der Ferne klingelt und klingelt es. Ich habe das Gefühl, ich rufe in der Vergangenheit an, und da ist niemand.
    Ich rufe nicht jeden Tag in einem KZ an. Ehrlich gesagt ist es mein erstes Mal. Die Arbeitszeiten stehen im Internet. Mittagspause von 12 bis 13 Uhr. Also müsste noch 9 Minuten gearbeitet werden. Bin ich so deutsch geworden? Am anderen Ende lasse ich es klingeln und klingeln. Auf meinem Bildschirm ist noch eine andere Website geöffnet. Ich möchte Weihnachtsgeschenke kaufen.
    Ich stelle mir den Raum am anderen Ende vor. Mit jedem Klingelton dehnt er sich weiter aus, ein gewöhnliches Büro wird zu einem endlosen Tunnel. Mein Blick ertastet die Wendeltreppe, Schatten, Gegenlicht. Hitchcock oder Orson Welles, ein leichter Schwindel, ein Trichter. So stelle ich mir das Büro der Gedenkstätte Mauthausen vor.
    Als der Trichter mich beinahe verschluckt hat, verstummt das Klingeln, und ich höre eine ferne Damenstimme. In schnellem Österreichisch teilt sie mir etwas mit und legt auf. Ich brauche einen Moment, um zu verstehen, dass es kein Anrufbeantworter war.
     
    Ich bin die Kundin. Die Frau am anderen Ende ist die Leistung. Sie arbeitet, und ich bin die Empfängerin ihrer Arbeit. Ich weiß, dass die Frau am Ende ihres Satzes etwas gesagt hat wie Meldet sich niemand. Sie hat mir keine Chance
gelassen, sie zu fragen, wie es sein könne, dass sich niemand meldet, wenn sie doch gerade mit mir spricht.
    Ich wähle die Nummer noch einmal. Nach einer langen Pause ist dieselbe Dame wieder da. Sie spuckt den perfekt polierten Satz zum zweiten Mal aus. Nach ihrem Meldet sich niemand sage ich schnell, warum denn nicht? Auf dem Computerbildschirm sehe ich sechs Ansprechpartner für Mauthausen, doch sie sitzen nicht in Mauthausen, sondern in Wien, im Innenministerium. Es ist Mittagspause, sagt sie. Es sind noch 9 Minuten, sage ich. Ich lüge, es ist schon 7 Minuten vor 12. Sie essen nicht pünktlich nach der Uhr, sagt sie. Soll ich dann in einer Stunde wieder anrufen? Versuchen Sie es. Ich komme nicht auf den Gedanken, die Dame zu fragen, warum sie nicht selbst mit mir sprechen kann, wenn sie schon mit mir spricht. Was macht Arbeit eigentlich aus den Menschen?
    Der Garten
    Mancher auf der Wanderschaft
Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.
Golden blüht der Baum der Gnaden
Aus der Erde kühlem Saft.
    Georg Trakl
    Meinen Großvater Wassilij Owdijenko, zu dem ich Deduschka Wasja sagte, nannten alle anderen Ded Wasja, Kosenamen, meinten sie, passten nicht zu ihm. Als er im Jahre 1982 nach seiner Kriegswanderung wieder in der Familie aufgetaucht war, hatte er seinen Garten mitgebracht. Es
war ein Wunder, ein Glück, eine Normalität. Alle um uns herum hatten einen Garten, eine kleine Datscha, ein Stück Erde von elf Ar und eine Babuschka auf dem Land, wir aber nicht. Alle, die ein bisschen Geld hatten oder in Fabriken und wissenschaftlichen Instituten mit klangvollen Namen arbeiteten, Durchschnittsfunktionäre, Ingenieure, Verkäuferinnen, Ärzte, Bauarbeiter, ja, die besonders, alle hatten eine Datscha. Nur wir nicht. Es war Armut oder die Unfähigkeit, sich etwas anzuschaffen, ich dachte aber, es sei der Fluch der Bücher. Wir hatten Tausende Bücher, die alle Umzüge mitmachten, und dass man in unserer Wohnung überhaupt noch atmen konnte, war Familienfreunden zu verdanken, die ausgeliehene Bücher nicht zurückbrachten. Wir wurden für die Bücher verflucht, dachte ich und träumte von einer Babuschka mit buntem Kopftuch und schwieligen schwarzen Händen, von einem Garten mit Apfelbäumen, von einem Stück Erde, wo meine Blumen, nur meine, wuchsen. Vielleicht spürte ich die Trägheit meines Agrarlands, zu dem man nur dann gehörte, wenn man ein Stück Erde hatte. Mir hätte eine Rose auf einem kleinen Planeten gereicht, ich

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