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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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bei den Frauen. Irgendwann in den dreißiger Jahren bekam er einen hohen Posten im Landwirtschaftsministerium, fuhr zu Konferenzen ins Baltikum, kaufte dort Zuchtvieh für die Ukraine, Kleider und seidene Strümpfe für Rosa, seine zweite Frau. Für seine Auslandsreisen wurde er während der großen Säuberungen nicht bestraft. Vielleicht war er erst dort, als das Baltikum kein Ausland mehr war, sondern Teil unserer großen, erzwungenen Familie, nach dem
Pakt, als der Krieg für die Balten schon ausgebrochen war und für uns noch nicht.
     
    Als ich meinen Großvater kennenlernte, war er mager und hochgewachsen, hatte feine Gesichtszüge und blassblaue Augen, er sah eher aus wie ein vornehmer deutscher Greis, so wie ich mir damals deutsche Greise vorstellte, als wie ein sowjetischer Rentner und ehemaliger Landwirt. Sehr selten sagte er da oder choroscho , und mir kam es vor, als hätte er einen Akzent, so merkwürdig und fremd tönten die Worte aus seinem Mund. Es war ein komisches Gefühl, mit zwölf Jahren einen Großvater zu bekommen, als wäre er nach mir geboren.
     
    Sein Lächeln nährte sein Schweigen. Keine Erzählungen vom Krieg, kein Wort über die Vergangenheit, über Erlebtes, kein Das waren Zeiten . Heute kommt es mir seltsam vor, dass wir ihn nicht darüber ausfragten, was ihm geschehen war, wir, die Kinder der siebziger Jahre, die vom Geist dieses Krieges durchtränkt waren, von diesem Krieg, der für uns die wichtigste Einführung in die Weltgeschichte war, einem Krieg, der die Erziehung der Gefühle einforderte, Verlust und Liebe, Freundschaft und Verrat, wir schöpften aus der nie versiegenden Quelle dieses Krieges.
     
    Am 9. Mai, dem Tag des Siegs, standen wir zu fünft, eine Mädchenclique, vor der U-Bahn-Station und gratulierten den Kriegsveteranen. Tausende von ihnen kamen an uns vorbei, auf dem Weg von der Festparade im Zentrum der Stadt zurück nach Hause, in ihre Schlafbezirke. Wir hat
ten das Geld gespart, das unsere Eltern uns für Kuchen und Eis gegeben hatten, monatelang hatten wir jede Kopeke gespart und kauften Hunderte Postkarten und Blumen. Am 9. Mai kosteten Narzissen nur drei und Tulpen fünf Kopeken das Stück.
     
    Wir beschrifteten die Postkarten nach der Schule, drei Wochen hindurch, stundenlang. Lieber Veteran! Wir gratulieren Ihnen zu diesem freudigen Fest! Als wir die alten Männer, oft auch Frauen, mit ihren Medaillen sahen, rannten wir auf sie zu und drückten ihnen eine Postkarte in die Hand und eine Blume, nicht auf den ritualisierten Feiern vor den Denkmälern, nicht in der Schule, als die Veteranen mit ihren Geschichten zu Besuch kamen, nein, an einer U-Bahn-Station neben dem Hotel Tourist. Das Erstaunlichste daran war die Freiwilligkeit. Wir hatten genau das gemacht, was unsere Schulideologen forderten, die Kriegsveteranen ehren, wir hatten aber den Zwang umgangen, wir hatten es trotz der Erlaubnis gemacht, und wir spürten, dass wir etwas Revolutionäres taten. Niemand hatte uns beauftragt, niemand hatte uns die Idee gegeben, niemand hatte uns gelobt. Wir fühlten uns als Abenteurer. Von ganzem Herzen gratulierten wir denen, die uns gerettet hatten, so die offizielle sowjetische Formel, die angesichts des Vernichtungskriegs doch stimmte. Wer darf uns sagen, wir seien der sowjetischen Kriegspropaganda gefolgt? Die Veteranen fragten uns, wer uns geschickt habe, denn auch sie spürten, dass wir Regeln brachen.
     
    Meinen Großvater habe ich trotzdem verpasst. Ihn gab es in dieser Menge feierlicher Helden nicht, er hatte keine
Medaillen und schloss sich den Scharen nicht an, die am Siegestag zusammen sangen und tanzten und sich an ihre wilde Kriegsjugend erinnerten. Und ich fragte nicht nach. Über die Millionen von Kriegsgefangenen sprach man nicht, sie wurden nicht einmal erwähnt, das Wort wurde nur für die Deutschen benutzt, die Kiew nach dem Krieg wiederaufbauen mussten. Unsere Kriegsgefangenen waren vom Großen Vaterländischen Krieg ausgeschlossen und aus der Erinnerung getilgt. Kein Wunder, dass mein Großvater nicht existierte. Er kam aus einer anderen Geschichte, aus einem anderen Krieg.
     
    In Gefangenschaft zu geraten ist verboten, und wenn doch, ist es verboten zu überleben. Dies war eine der unausgesprochenen sowjetischen Kriegsaporien. Wer überlebt, ist ein Verräter, und der Tod ist besser als Verrat. Deswegen ist, wer aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, ein Verräter und muss bestraft werden. Mit der Unausweichlichkeit der antiken Logik

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